Christian Gastgeber
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1919-1939 aus der Sicht der internationalen Diplomatie  
  Die Studie "Internationale Politik 1919-1939" beleuchtet die Zwischenkriegszeit aus einer besonderen Perspektive: Das vierbändige Werk gibt erstmals Einblick in die Analysen, Interpretationen und persönlichen Statements hoher Diplomaten - eine Fundgrube und Bereicherung für Geschichtsstudien der Zwischenkriegszeit.  
Das Editionswerk
Die in der Edition versammelten Einträge stammen aus der Feder der Missionschefs Österreichs, Belgiens und der Schweiz. Sie kommentieren wichtige historische Ereignisse von den Friedensverträgen in Versailles und St. Germain bis zum Vormarsch der Hitler-Truppen. Der Autor, Ernst Matsch, war selbst fast 40 Jahre im diplomatischen Dienst tätig.

Im Folgenden einige Auszüge aus "Internationale Politik 1919-1939":
20.11.1924 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern)

Iganz Seipel
(nach dem Attentat auf Ignaz Seipel) Der Generalkommissar [des Völkerbundes] bedauert den Weggang Seipels auch deshalb besonders, weil man es mit einem erhabenen und offenen Geist eines weit blickenden Mannes zu tun hatte. Allerdings müsse zugegeben werden, dass Seipel seit dem Attentat nicht mehr ganz der Gleiche sei wie früher. Seine Gesundheit hat entschieden gelitten, er hat seine wohltuende Ruhe verloren.

Wenn man, bei ganz sachlichen Verhandlungen, eine andere Meinung als die seinige vertritt, bekommt er gleich einen roten Kopf und antwortet gereizt, was früher nie der Fall war. Geschadet hat ihm vielleicht auch das große Lob, das ihm immer und überall gespendet wurde. Er hat eine Gruppe von Leuten um sich, die ihn immer in den Himmel erhoben und das mag ihn auch einigermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht haben.
12.4.1928 (Ministère des Affaires Etrangères, Brüssel)
(zur Frage der Türkei nach der Trennung von Kirche und Staat): Eine offene Frage bleibt es hingegen, ob der Islam das einzige und das hauptsächlichste Hindernis bildet und ob nicht gerade die türkischen Rasseneigenschaften sowohl die seinerzeitige Annahme des Islam und der islamitischen Kultur als auch einen inneren Widerstand gegen westliche Kultur bedingt haben;

inwieweit aber die abendländischen Kulturideale, und nicht bloß die technischen Zivilisation, tatsächlich in die türkische Volksseele einzudringen und die rein religiöse Kultur, die mit heftigen Schlägen ausgerottet wird, zu ersetzen vermögen, wird erst eine ferne Zukunft weisen.
7.9.1929 (Österreichisches Staatsarchiv, Wien)
Der Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina wird von den leitenden türkischen Politikern als eine Reminiszenz des Mittelalters bezeichnet.
... werden die Unruhen in Palästina als die natürliche Folge der Herrschsucht Englands bezeichnet, welche Araber und Juden, ohne dass sie es merkten, gegen einander ausspiele, nur um die britische Macht in Palästina zu festigen.

Im Übrigen seien die dortigen Ereignisse die natürliche Konsequenz der Fehler der englischen Regierung, welche in einem Land, das zu 70 Prozent von Arabern bewohnt sei, den jüdischen Nationalstaat aufbauen wolle. Nachdem sie die Araber gegen die Türken gehetzt hatte, hetzt sie nun in Palästina die Juden gegen die Araber ...
Ausschnitt aus einem Missionsbericht: Moskau - Wien
 


23.1.1930 (Österreichisches Staatsarchiv, Wien)
(Zur Situation in Russland) Allerorts wurden Resolutionen gefasst, in denen die Schließung der Kirchen und die Verwendung von Kirchenglocken zu Industrialisierungszwecken verlangt wurden. Tatsächlich wurden dann auch Umzüge veranstaltet, die von Lastautos begleitet waren, in welchen von den Arbeitern die als "nutzloses Gerümpel" auf die Straße geworfenen Heiligenbilder eingesammelt wurden. Von Scheinwerfern beleuchtet wogten Volksmengen durch die Straßen, wo auf riesigen Scheiterhaufen Ikonen verbrannt wurden.

Die Kirchenglocken wurden in zahlreichen Dörfern einfach aus dem Glockenturm heruntergeworfen, zerschellten am Boden, wurden, soweit größere Stücke mit Reliefs von Heiligenbildern noch erhalten waren, mit Hämmern klein zerschlagen und in die Industriezentren abgeführt.
7.5.1932 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern)

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass in Wien die Zahl der eingeschriebenen Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitler-Bewegung) nur auf etwa zwölftausend geschätzt wurde, während diese Partei bei den jetzigen Wiener Gemeinderatswahlen 201.454 Stimmen auf sich vereinigte, so kann dies nicht allein als Folge der fieberhaften Wahlpropaganda der Hakenkreuzler gewertet werden.

Auch der Landesleiter der NSDAP Österreich Proksch oder der noch rührigere Gauleiter Frauenfeld sind gewiss keine so hervorragenden Führergestalten, als dass die Mobilisierung der Massen vorwiegend ihrem persönlichen Einsatz zugeschrieben werden könnte.

Das Anschwellen der Hitlerbewegung in Österreich dürfte vielmehr, ähnlich wie in Deutschland, als eine elementare Erscheinung auf die Verzweiflung und Unzufriedenheit zurückzuführen sein, die sich in den letzten Jahren insbesondere auch der Jugend bemächtigt hat, die sich wegen der aus den Friedensverträgen entstandenen Folgen ihrer zukünftigen Lebensmöglichkeit beraubt sieht und die nunmehr die Hoffnungen in die Versprechungen der Nationalsozialisten setzt.
31.3.1933 (Österreichisches Staatsarchiv, Wien)

Edvard Benesch
(Diplomatendiner in Prag) Der deutsche Versuch einer Parteidiktatur ist seiner [Benesch'] Ansicht nach im Voraus zum Misserfolg verurteilt, Reichskanzler Hitler werde weder das Tempo noch die Richtung durchhalten, und Benesch glaubt nicht, dass Deutschland die ersten vier Jahre des Hitler'schen Programms werde aushalten können. Präsident Marsaryk stimmte hier zu und meinte, er könne sich nicht vorstellen, wie ein Volk der Dichter, Denker, Professoren und Intellektuellen eine solche Knebelung der primitivsten Freiheiten sich auf die Dauer werde gefallen lassen.

In Parenthese möchte ich daran erinnern, dass Benesch vor zehn Jahren auch dem faschistischen Regime in Italien nur eine ganz kurze Lebensdauer prophezeit hatte und von Monat zu Monat mit dem unausweichlichen Zusammenbruch des Regimes rechnet.
8.8.1934 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern)

(Zur Ermordung Dollfuss): Sehr rasch erschienen indessen im Bundeskanzleramt bewaffnete Leute, worunter ein improvisierter, aber "vorzüglich und authentisch" aussehender Major, die mit vollendeter Sicherheit erklärten, in unmittelbarem Auftrag des Bundespräsidenten zu handeln. Alles und alle fügten sich ihnen.

Mit vorgestreckten Revolvern wurde jedem mit dem Todesschuss gedroht, sofern irgendwelcher Widerstand geleistet würde. Sämtliche Beamte des Hauses, mit Ausnahme von Dollfuss und Fey, wurden vorerst im Hof des Ministeriums versammelt. Später führte man sie in einen Amtsraum, wo sie rauchen und Wasser trinken, auch laut miteinander reden durften. Wer sich aber im Flüsterton zu unterhalten wagte, wurde auf der Stelle erschossen. Und so ging es bis gegen sieben Uhr abends, als die eingeschlossenen Beamten dann aus dieser bedenklichen Lage befreit wurden.

Erst jetzt erfuhren sie den Tod des Bundeskanzlers, der gleich zu Anfang der Überrumpelung in ihrer unmittelbaren Nähe erschossen worden war. Zwei Revolutionäre waren gleichzeitig durch verschiedene Türen in Dollfuss' Arbeitszimmer eingedrungen. Er suchte sich durch eine dritte Türe, in deren Nähe er sich befand, zu flüchten, wurde aber von drei Kugeln getroffen, wovon die tödliche, die ihm die Halsader durchbohrte, aus unmittelbarer Nähe auf den Bundeskanzler abgefeuert worden sein muss.

Bekanntlich konnte dem schwer Verwundeten keinerlei ärztliche Hilfe zuteil werden. Er lag auf einem Ruhebett und verblutete langsam im Verlauf von zwei bis drei Stunden.
Major Frey sei während dieser Zeit einmal zu Dollfuss gelangt. Dieser erklärte, er leide nicht, sondern beklagte sich nur über Gefühllosigkeit der Glieder. In der Tat soll die Wirbelsäule durch einen Schluss verletzt worden sein, so dass Dollfuss, hätte man ihn am Leben erhalten können, offenbar gelähmt geblieben wäre.
11.4.1938 (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern)
(Widerstand gegen Hitler in Wien) Da und dort regen sich aber noch Kräfte des Widerstandes. Ein Augenzeuge sah gestern in ganz frischen Farben an einer der begangensten Stellen Wiens den Spruch: "Schuschnigg treu, Österreich frei".
Am Samstag stand am so genannten Naschmarkt - auf dem Pflaster in Riesenlettern zu lesen: "Wir wollen unsern Führer auf der Bahre sehen." ...

Am Samstag wurden beim Einzug Hitlers in Wien Plakate mit der Inschrift "Lebend nach Wien, tot nach Berlin" in nicht geringer Anzahl verteilt. Hitler war dadurch offenbar nicht ganz unbeeindruckt. Jedenfalls verließ er Wien, statt wie anfänglich geplant heute, schon Samstagabend.

Sein Einzug in Wien erfolgte übrigens durch Straßen, deren Menschenspalier nicht so dicht war, wie man hätte vermuten können. Die Bevölkerung ist offenbar durch die Geschehnisse übermüdet oder sie bleibt aus Angst vor Zwischenfällen oder Missverständnissen zu Hause.

[1.9.06]
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Zur Person des Autors Erwin Matsch
Dr. Erwin Matsch, Botschafter a.D., geb. 21.8.1930, hatte 37 Jahre lang dem österreichischen diplomatischen Dienst angehört. Er war in zugeteilter Verwendung an den Botschaften in Bern, Warschau, Belgrad und Madrid. 1978-1980 ist er Botschafter in Zaire und 1981-1986 in Lybien gewesen. 1988 wurde er zum Botschafter im Irak bestellt. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze, die sich alle mit außenpolitischen Themen oder solchen der Diplomatie befassen. 1992 wurde ihm das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft I. Klasse verliehen.
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Weitere Titel vom Autor
Wien - Washington
Ein Journal diplomatischer Beziehungen, 1838-1917.
Wien 1991

Der Auswärtige Dienst von Österreich (-Ungarn) 1720-1920.
Wien 1986
->   Böhlau Verlag, Wien
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Internationale Politik 1919-1939
Matsch, Erwin
Internationale Politik 1919-1939
Teilband I: Eine Welt im Gipsverband (1919-1932)
Teilband II.1: Der Mann zwischen Kurt und Konrad (1933-1936)
Teilband II.2: Der Mann zwischen Kurt und Konrad (1937-1939)
Teilband III: Registerband
1411 Seiten, 6 s/w-Abb.
4 Bände im Schuber
ISBN 3-205-77352-7

Wien: Böhlau
->   Info zum Buch
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->   Völkerbund (Wikipedia)
->   Österreichisches Staatsarchiv
 
 
 
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