Christian Gastgeber
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Ungarn 1956 - Der Aufstand vor 50 Jahren  
  Vor genau 50 Jahren, in den frühen Morgenstunden des 4. November 1956, marschierten fünf sowjetische Divisionen in die ungarische Hauptstadt ein - und begannen, den sich dort formierenden Volksaufstand gewaltsam niederzuschlagen. Eine Chronologie der Ereignisse aus gesamteuropäischer Perspektive.  
Die Publikationen zum Gedenkjahr

Den 50. Jahrestag der militärischen russischen Intervention in Budapest und damit der Niederschlagung eines Aufbegehrens gegen das kommunistische Regime nahmen eine Reihe von wissenschaftlichen und biographischen Publikationen zum Anlass, die jüngste Geschichte des neuen EU-Staats aufzuarbeiten.

Neben den persönlichen Erinnerungen, Berichten und Analysen, die aktuell erschienen, widmete sich dem Thema bereits vor drei Jahren ein zu wenig beachteter Band, der den Aufstand 1956 in einer diachronen und gesamteuropäischen Perspektive behandelt: "Die Ungarnkrise 1956 und Österreich".
Die Sowjetunion und Ungarn: Die Phase der Vorbereitung
Die sowjetischen Einheiten in Ungarn waren nach dem 2. Weltkrieg mit der Besatzungstruppe in Österreich gekoppelt. Nach dem Staatsvertrag am 15. Mai 1955 fehlte die gesetzliche Grundlage; Moskau hatte sich diese zuvor am 14. Mai 1955 mit der Einrichtung des Warschauer Paktes gesichert. Bereits im Juli 1956 erstellte das Verteidigungsministerium in Moskau ein Szenario einer gewaltsamen Problemlösung in Ungarn.

Bis zu den schicksalhaften Ereignissen im Oktober 1956 lässt sich rückblickend seitens der sowjetischen Führung eine mehrstufige Phase der Einflussnahme analysieren: die verdeckte "Phase der Vorbereitung" (Ende der 1940er, Anfang der 50er Jahre) - gekennzeichnet durch eine gewaltsame Industrialisierung und eine Intensivbewerbung landwirtschaftlicher Kooperative und Terror. So wurden 1952 in neun Monaten über eine Million Ungarn angeklagt, Führungsmitglieder immer wieder nach Moskau zum Rapport beordert.

Die Spannungen im Volk verstärken sich; Proteste in Massendemonstrationen gegen die (Wirtschafts-) Führung wurden lauter. Moskau nahm mit Tito Kontakte zu einer möglichen Intervention auf.
Sowjetische Truppenbewegung (24.-25.10.1956)
 


Abbildung nach Valeri Vartanov, Die Sowjetunion und die Ereignisse im Herbst 1956, in: Die Ungarnkrise 1956 und Österreich. Wien 2003, 79.
Die Sowjetunion und Ungarn: Die Intervention
Bild: Erich Lessing / Brandstätter Verlag)
Ungarischer Widerstand vor dem Corvinus-Kino
In der offenen Phase der Intervention wurden die sowjetischen Truppen vom 1. KP-Sekretär Ernö Gerö am 23.10.1956 nach Budapest erbeten, wo sie am 24. Oktober um 5:00 Uhr eintrafen, ungarische Verbände entwaffneten und strategische Positionen einnahmen. In der Stadt waren immer noch rund 3.000 bewaffnete ungarische Personen verteilt, die gegen die ausländischen Eindringlinge ankämpften. Fünf Tage später, am 29. Oktober, begannen die sowjetischen Truppen mit dem Abzug.

Am 31. Oktober wurde ein Maßnahmenplan für Ungarn in Moskau ausgearbeitet, in drei Tagen sollten die sowjetischen Truppen in Ungarn wieder die Ordnung herstellen. Am nächsten Tag provozierte die ungarische Regierung unter Imre Nagy Moskau, indem der Austritt aus dem Warschauer Pakt, die Neutralität des Landes und die Forderung des Abzugs der fremden Truppen aus Ungarn verkündet wurden.

Am 4. November marschieren die sowjetischen Truppe in der Operation Wirbelsturm gegen Budapest. Gegen ungarische Widerstandskämpfer wurde mit Waffengewalt vorgegangen (so etwa im Corvinus-Kino). Letztere revanchierten sich mit entsprechenden Racheaktionen an habhaft gewordenen Soldaten.
Die Sowjetunion und Ungarn: Fazit
Bild: Erich Lessing / Brandstätter Verlag)
Volkszorn gegen Regimevertreter
Bis zum 11. November war sämtlicher Widerstand gebrochen. Partisanen im Rückzug wurden u.a. unter Anteilnahme ungarischer Offiziersregimenter liquidiert.

Das Ergebnis: unter den Russen 720 Tote, 1.540 Verletzte und 51 Vermisste; unter den Ungarn über 2.500 Tote, über 19.000 Verletzte.

Die Führung unter Imre Nagy wurde verhaftet, Nagy im September 1957 zum Tod verurteilt. Im November 1956 wurden über 1.400 Personen inhaftiert, davon 860 in sowjetische Gefängnisse überführt; insgesamt wurden 20.000 interniert; 200.000 verließen das Land.

Moskau-kritische Stimmen waren damit ausgeschalten, und die neue Regierung wurde mit der KP-Führung in Moskau gleichgeschaltet.
Amerika und Ungarn: Eisenhowers Antikommunismus
Vom Blickwinkel des antikommunistischen Wahlkampfes unter Präsident Eisenhower 1952, unterstützt etwa durch Senator Joseph McCarthy, und mit der programmatischen Unterminierung der Sowjetherrschaft im Ostblock schien Amerika für die Ungarn zum Zeitpunkt ihres Aufstandes ein idealer Verbündeter, der - wie man sich in falscher Hoffnung wiegte - bei Gefahr zur Stelle sein werde. Doch Wahlkampfrhetorik war eine Sache, die Alltagspolitik eine andere.

Eisenhowers Vorgänger Harry Truman selbst arbeitete mit dem CIA an einem Rollback-Plan des Kommunismus in Osteuropa. Mehrere Vorfälle bis hin zu Doppelspionen in den eigenen Reihen zeigten die Misserfolge dieser amerikanischen Politik in einem mehr oder weniger verdeckten Kampf gegen den Kommunismus.

Noch in der Anfangszeit Eisenhowers standen kurz nach Stalins Tod am 15.3.1953 - unter dem fortschreitenden nuklearen Wettrüsten und der Gefahr einer sowjetischen Wasserstoffbombe - Pläne von einer verstärkten psychologischen Kriegsführung (über die vom CIA finanzierten Sender Radio Free Europe und Radio Liberty) bis hin zu einem nuklearen Überraschungsschlag zur Diskussion.
Eisenhowers Rückzug vom Antikommunismus
Eisenhower wollte allerdings weder mit Provokationen subversiver antikommunistischer Tätigkeiten in Osteuropa, noch mit dem Versprechen an die Staaten des Sowjetblockes einen 3. nuklearen Weltkrieg heraufbeschwören.

Propagandatätigkeit über Radio Free Europe war akzeptiert, konkrete Anzettelung von Revolten oder gar direkte Unterstützungszusagen wurden vermieden. Eisenhower übernahm damit letztlich die Truman'sche Kapitulationsstrategie der Politik der gleichzeitigen Eindämmung und Koexistenz mit der Sowjetunion ohne aggressiven Aktionismus, den Ausbau der eigenen Militärmacht und das Durchhalten eines langen Kalten Krieges.

Der Höhepunkt des ungarischen Aufstandes wurde allerdings durch die internationale Krise am Suezkanal überschattet, wo die Achse Frankreich-England-Israel ein Bündnis gegen Russland-Ägypten mit verheerenden Folgen einging. Ungarn wurde nicht zuletzt durch diese neue Priorität, aber eben auch wegen des schon zuvor bestimmten Ablassens sämtlicher Unterminierungsaktionen im Ostblock "fallen gelassen".

Was Eisenhower freilich nicht gelang, war die Kontrolle des Senders Radio Free Europe in München - zum Teil unter Mitarbeit von kommunistischen Flüchtlingen -, so dass vorschnelle Hoffnungen auf eine amerikanische Intervention zunichte gemacht wurden.
Polen und Ungarn 1956
Als in Ungarn der Aufstand gegen das KP-Regime ausbrach, befand sich auch Polen in einer revolutionären Situation mit blutigen Unruhen am 28. und 29. Juni 1956 in Posen; abgesehen von ideologischen Parallelen des Aufbruches waren die im 2. Weltkrieg geleistete Solidarität der Ungarn beim deutschen und sowjetischen Angriff auf Polen in Erinnerung.

In Polen kam nach den Unruhen der kommunistische Reformer Wladislaw Gomulka an die Macht, der in der Stalin-Ära inhaftiert war, nun Volksheldenstatus hatte und sich beharrlich weigerte, den Juni-Aufstand nach der offiziellen Terminologie als konterrevolutionär zu bezeichnen.
Polen und Ungarn: Parteichef Gomulka
Bild: Wikipedia
Gomulka
Gomulka entsandte am 28. Oktober eigene Beobachter nach Budapest - auch mit der Warnung einer behutsamen Reform. Zugleich wurde vom polnischen Politbüro ein "Aufruf an die ungarische Nation" zur Unterstützung für "Imre Nagys Weg und sein Programm" verfasst. Nachdem Chrustschow Gomulka in der Nacht vom 1. November von der zweiten sowjetischen Intervention in Ungarn informiert hatte, wurde von Polen die folgende Stellungnahme herausgegeben: "Es ist die ungarische Nation, die über ihr Schicksal und über die Errungenschaften des Sozialismus entscheiden soll."

Für den überzeugten Kommunisten Gomulka änderte sich die Situation, als Amerika in der UNO-Vollversammlung die Sowjetunion verurteilen wollte (wogegen China stimmte) und Ungarn zuvor am 1. November den Austritt aus dem Warschauer Pakt deklarierte. Eine weitere Unterstützung Ungarns erschien Gomulka als allzu deutliche Provokation Chrustschows und Gefährdung des eigenen Weges.

Für Gomulka war Nagy eindeutig zu weit gegangen, dennoch setzte er sich nach 1956 für ihn ein: so im Mai 1957 in Moskau und im Mai 1958 in Budapest, als der Nagy-Prozess unmittelbar bevorstand (Kádár soll Gomulka versichert haben, dass keine Todesurteile gefällt werden). Als Nagy dann tatsächlich im Juni 1958 zum Tode verurteilte wurde, ließ sich Gomulka lange Zeit, bis er reagierte. Am 28. Juni 1958 zeigte er sein Umpolung zum getreuen Parteidiener: Der ungarische "Revisionismus" wurde verurteilt, dem Prozess zugestimmt.
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Bild: Erich Lessing / Brandstätter Verlag)

Budapest: Anstellen um Brot, auf der Straße kalkbestäubte Leichen russischer Soldaten
Gomulka bei einer internen Sitzung
"Genossen! Ihr erwartet von mir, dass ich das Schicksal der Nation auf das Spiel setze. Ihr wollt, dass ich Nagy verteidige, obwohl ich nicht weiß, wer er ist und was seine Ziele sind.
Ich weiß nur, dass in seinem Kabinett praktisch keine Kommunisten mehr sind, sondern dass Mitglieder reaktionärer Parteien überwiegen, während die Kommunisten auf Straßenlaternen aufgehängt werden.
Wenn wir diese Regierung verteidigen, werden wir das gleiche Schicksal wie Ungarn erleiden. Das werde ich nie zulassen." (5.11.56)
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Polens Hilfsaktionen
Polen hatte sich auf erste Meldungen der heimischen Medien am 24. und 25. Oktober zur ungarischen "Tragödie" mit einer unglaublichen Solidaritätswelle beteiligt: Eine Million Zloty (bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 800-1.000 Zloty) sowie 795 Liter Bluterspenden, 8.000 kg Medikamente, 24.000 kg Sondergüter etc. wurden gespendet - zusammen ca. ein Wert von 2.000.000 US-Dollar.

Begleitet waren die Hilfsaktionen von Sympathiekundgebungen, beginnend ab dem 24. Oktober in Warschau (am 30. Oktober mit 10.000 in Olsztyn, u.a. mit den Parolen "Befreit Polen - befreit Ungarn", "Russen nach Hause", "Wir fordern die sowjetische Armee auf, Ungarn zu verlassen"). Weitere Demonstrationen folgten in allen größeren polnischen Städten; vor der ungarischen Botschaft in Warschau wurde eine Mahnwache errichtet.
Österreichs Aufmarsch an der Grenze
Bild: c/o Böhlau Verlag
Gerade erst entstanden, stand das neue Österreichische Bundesheer vor einer ersten Bewährungsprobe beim Grenzeinsatz. Am 15. Oktober 1956 rückten die ersten Wehrpflichtigen ein (12.500), am 24. Oktober erging um 15:00 Uhr der Auftrag an die Gruppenkommandanten zur Zusammenstellung von Alarmeinheiten. Das Ministerium war in der Koordination durch unkoordinierte Truppenorganisationen offensichtlich überfordert, Kaderpersonal war nur spärlich vorhanden, Rekruten mussten in die Alarmkompanien aufgenommen werden, die Ausrüstung war mehr als mangelhaft.

An der Grenze galt es, Provokationen zu vermeiden und nur durch geschultes Personal Grenzpatrouillen durchzuführen (hauptsächlich durch Gendarmerie und Zollwache).

Zu den ersten Flüchtlinge, die vom Abbau des Eisernen Vorhanges im Sommer 1956 profitierten, zählten die bisherigen Regimegetreuen, die nun den Volkszorn zu fürchten hatten: KP-Funktionäre und Vertreter der Staatssicherheit. In der Folge folgten auch immer mehr ungarische Soldaten, die die Flucht nach Österreich antraten.
Österreichs Appell an die Sowjetregierung
Die Bundesregierung richtete am 28. Oktober mutig und entschlossen trotz Widerstand in den Parteien eine Note an die sowjetische Regierung: "Die österreichische Bundesregierung verfolgt mit schmerzlicher Anteilnahme das nun seit fünf Tage andauernde blutige und verlustreiche Geschehen im benachbarten Ungarn. Sie ersucht die Regierung der UdSSR mitzuwirken, dass die militärischen Kampfhandlungen abgebrochen werden und das Blutvergießen aufhöre."

Gemeinsam mit dem ebenso übermittelten Schießbefehl gegen Rotarmisten auf österreichischem Boden sowie den zahlreichen karitativen Maßnahmen für die Flüchtlinge begannen die östlichen Medien am 30. Oktober mit massiven antiösterreichischen Kampagnen, bis hin - geschürt von der "Volksstime" - zu einem bevorstehenden Angriff der Amerikaner von Österreich aus.
Österreich vor dem Szenario eines Sowjet-Angriffes
Die verstärkte Präsenz sowjetischer Truppen und die Mobilisierung in der Tschechoslowakei stellten das Bundesheer vor ein Problem; bei einem Angriff auf Österreich war eine Verteidigung bei der vorhandenen Truppenstärke unmöglich, man konnte einen Überfall bestenfalls verzögern (entsprechende Maßnahmen mit geplanten Brückensprengungen waren in Vorbereitung), damit, so der damalige Generaltruppeninspektor Erwin Fussenegger, "die Regierung in Wien Zeit hat, in die Unterhosen zu kommen". In der Nacht vom 5./6. November sollte sich das Gros des Bundesheeres in die entsprechenden Verteidigungsstellungen - als Übungsmärsche getarnt - zurückziehen, an der Grenze beließ man nur die Panzeraufklärer.

Gegen Mittag des 6. November wurden die Grenzverteidigungsvorbereitungen vom Ministerium wieder aufgehoben, die Situation an der Grenze war deeskaliert.
Im weiteren Verlauf unterstützte das Bundesheer die Gendarmerie und die Hilfsorganisationen; mitunter konnten österreichische Soldaten von den Flüchtlingen auch verkannt werden: als Amerikaner, da sie überwiegend amerikanische Uniformen trugen und US-Armeefahrzeuge verwendeten, und als Sowjets, denn die Panzeraufklärer trugen blaue Overalls und Pelzmützen.

Der Grenzeinsatz des Bundesheeres wurde am 15. Dezember 1956 beendet (gefolgt von einer kurzen Periode vom 14. Februar bis 23. April 1957).

[3.11.2006]
...

Die Ungarnkrise 1956 und Österreich
Herausgegeben von Erwin A. Schmidl
Mit einem Vorwort von Paul Lendvai

Wien 2003
Böhlau Verlag
317 Seiten, gebunden, 16 sw-Abbildungen, 4 Karten
ISBN 3-205-77009-0
->   Info zum Buch
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->   Ungarn 1956 - Literatur und Ausstellungen
 
 
 
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