Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Wissen und Bildung 
 
Buchforschung: Druckwerke bekommen ein Eigenleben  
  Bücher wirken weit über den individuellen Leser hinaus. Sie haben ihre eigene Geschichte, die oft auch über die Zeit erzählt, in der sie produziert und rezipiert wurden. Mit dieser Wirkungsgeschichte beschäftigt sich nun schon seit zehn Jahren die "Gesellschaft für Buchforschung in Österreich".  
Die Wirkung des Buches

Während für den Leser ein Buch gemeinhin nach der Lektüre in vorderster Reihe oder versteckt im Regal sein Dasein bis zur nächsten Entrümpelung fristet, mitunter gestohlen, enteignet oder vernichtet wird, setzt für den Buchforscher ab diesem Moment sein Forschungsinteresse ein:

Die Verbreitung, Wirkung und Bewahrung oder auch der Verlust des geschriebenen, geschmückte Wortes stehen im Mittelpunkt der Buchforschung - dies alles kombiniert mit den soziokulturellen Entwicklungen und materiellen sowie gestalterischen Grundlagen.

Das Buch wird damit über seinen Inhalt hinaus zu einer geschichtlichen Realie, ein Dokument der jeweiligen Zeit. Die Buchforschung umspannt so einen historischen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart, von den Papyri bis zu modernsten Druckverfahren.
Bücherwanderungen

In der Provenienzgeschichte gestaltet sich die Buchforschung zur akribischen Detektivarbeit, geht es dabei doch darum, die "Wanderungen" von Büchern über Jahrhunderte hinweg nachzuzeichnen.

Anhaltspunkte sind oft nur Besitzervermerke, Exlibris, Einbände eines neuen Besitzers, Glossen (mit der Problematik der sicheren Identifizierung von Schriften) oder die Rekonstruktion aus parallelen Bücherwanderungen.

Die Kombination einer Fülle von Benützungsbeobachtungen und Sekundärquellen lassen Vorbesitzer und Bibliotheken rekonstruieren; und nicht selten sind es große Gelehrte, deren Bücherbesitz so zu Tage tritt.
Provenienzforschung

Die Provenienzforschung mit mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ausrichtung hat vor allem im vorigen Jahrhundert mit dem Interesse an Bibliotheksrekonstruktionen einen Aufschwung erlebt. Das Paradebeispiel einer über alle Welt zerstreuten Bibliothek infolge einer nachlässigen Bibliotheksbetreuung und der Türkeneinfälle ist die Büchersammlung des Königs Matthias Corvinus (1443-1490).

Die Bedeutung und die Methodisierung dieser Forschungsausrichtung brachten die Restitutionsverfahren geraubter jüdischer Bibliotheken deutlich zu Tage. Der Buchforscher ist auch hier bei der intentionellen Vernichtung von Findbüchern oder Erwerbseingängen auf ein mühsames Wissenschaftspuzzle angewiesen. Oft ist es ein zufälliges Sichtungsergebnis, ein unerwarteter Glücksfund, der alles aufhellt.
->   Bibliotheca Corviniana digitalis
->   Kommission für Provenienzforschung
Buchgeschichte ist Kulturgeschichte

Die moderne Buchforschung widmet sich unter anderem der Wirkungsgeschichte des Buches, dem sozial-historischen Umfeld, in dem ein Buch Verbreitung findet. Damit ist die Buchgeschichte zugleich ein Beitrag zur Kulturgeschichte, indem Regionen in ihrem Buchbestand erforscht werden.

Es zeigt diese Forschung aber auch die Wertigkeit des Buches über die Zeiten: etwa anhand von Kolorierungen, Illuminationen (auch in gedruckten Büchern), in der Art der Behandlung eines Buches, eines neuen Einbandes etc.

Eng verbunden ist damit die Frage der Kanonisierung der Literatur, sowohl in der Belletristik als auch in der Fachliteratur. Welche Sachbücher schaffen es zum Klassiker in der Expertenbibliothek, welche Bücher gehören zum Hausbestand einer (bürgerlichen) Bibliothek?

Die Buchgeschichte kann auch eine nationale Spurensuche sein: Die Geburt der Atomphysik etwa fand in dem erstmals 1758 in Wien erschienenen Buch "Theoria Philosophiae Naturalis" von R. J. Boscovich statt; 1812 erschien das "Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch" von Franz von Zeiller, das älteste noch gültige Gesetzbuch des deutschen Sprachraums.
Das Buch als Spiegel der Zeit
In seiner Ausstattung, seiner Aufmachung, den Lettern, den Illustrationen und nicht zuletzt in seinem Einband ist das Buch auch ein Spiegel der Zeit; als Beispiel sei nur das Titelblatt genommen: von den pompösen Barocktiteln bis zur Gegenwart ist es ein weiter Weg.

Die prachtvollsten Zierinitialen, die das gedruckte Buch noch aus bester handschriftlicher Tradition übernommen hat, lassen den Blick des barocken Lesers kaum noch am Buchstaben ruhen, sondern ziehen die Aufmerksamkeit unweigerlich auf sich.

Die Lieblosigkeit in Buchprodukten der Gegenwart durch diverse Textverarbeitungsprogramme, die den Beruf des Layouters scheinbar überflüssig machen, sprechen Bände für die gegenwärtige Wertigkeit des Buches.
Die Erforschung der Buchkultur in Österreich

Hierzulande hat es sich die "Gesellschaft für Buchforschung in Österreich" zur Aufgabe gemacht, den Spuren der Veröffentlichungen und ihrer Wirkungen der letzten 500 Jahre nachzugehen. Das geschieht in Form der zweimal jährlich erscheinenden Mitteilungen der Gesellschaft und in der Monographien der Buchreihe Buchforschung (mit Bänden zu Prag, Schulbüchern etc).

Im Mittelpunkt der Forschung stehen nicht nur deutschsprachige Werke, sondern bis 1918 die Veröffentlichungen im Gesamtgebiet der österreichischen Monarchie mit den rund 14 Sprachen der Monarchie, mit Nachdrucken, den Einwirkungen der Zensur u.a. Auch die Publikationen in den beiden Republiken, der NS-Zeit, bis zur jüngsten Entwicklung werden beachtet.
Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung
Die Inhalte reichen von erstmaligen Forschungsberichten über die "Buchgeschichte der Südslaven" und "Forschungen zur Geschichte des Buchwesens in der Schweiz" sowie "Habsburgica" bis zu mehrfachen aktuellen Beiträgen über Provenienzforschung an der UB Wien ("Die Gestapo als Bücherlieferant"), "Der österreichische Buchmarkt und weibliche Karrieren", Grazer Buchhändler um 1800, die Unternehmensgeschichte der Styria Medien AG bis hin zu Rezensionen über einschlägige Neuerscheinungen, Notizen über Österreich bzw. Wien-bezogene Aktivitäten im Bereich Buchforschung.
...
Der Festakt zum Jubiläum
Das 10-jährige Jubiläum der Gesellschaft wird am Donnerstag, dem 13. November, in der Wien-Bibliothek um 19:30 Uhr im Wiener Rathaus gefeiert. Den Festvortrag hält Prof. Dr. Christine Haug von der Ludwig-Maximilians-Universität, München.
->   Christine Haug
...
Die Gesellschaft für Buchforschung in Österreich
Die 1998 gegründete Gesellschaft ist die einzige Institution in Österreich, die sich mit Buchforschung befasst. Sie fördert einschlägige Forschungen zum Buchwesen in Österreich. Sie versucht Studien zu koordinieren und weist laufend auf Neuerscheinungen wie auch auf Lücken der bisherigen Forschung hin. Die Interessen der Gesellschaft erstrecken sich auf das gesamte Gebiet der habsburgischen Monarchie bis 1918 (in Österreich und den Nachfolgestaaten) sowie auf die Republiken, von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Sie gelten dem Buchwesen vom Autor zum Leser, den herstellenden und vermittelnden Institutionen - Druck, Buchhandel, Verlag, Bibliotheken, Zensur u.a. - und den Druckwerken - Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Musikalien, Landkarten, Plakaten u.a.m.

Für Forscher und Forscherinnen aus dem Ausland ist die Gesellschaft Ansprechpartner. Sie erteilt bibliographische Auskünfte und Nachweise und hilft bei einem Aufenthalt in Österreich. Die Gesellschaft sucht die Zusammenarbeit mit ausländischen Institutionen. Über die Tätigkeit der Gesellschaft berichten die zweimal jährlich erscheinenden Mitteilungen. Sie bringen Artikel, Hinweise auf Forschungsprojekte und eine Bibliographie von Neuerscheinungen zum Thema Buchforschung in Österreich.

[12.11.08]
->   Homepage
->   Aktuelle Publikationen im Verlag Praesens ...
->   ... sowie im Verlag Harrassowitz
 
 
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick