Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft 
 
Nationale Ethnologie und exotische Anthropologie  
  Anfang September fand die internationale Konferenz der SozialanthropologInnen in Wien statt. Joao de Pina-Cabral, Präsident des europäischen Verbands der Sozial- und Kulturanthropologen EASA, hielt in seiner Eröffnungsansprache ein Plädoyer für die Überwindung der Grenzen zwischen nationaler Ethnologie und exotischer Anthropologie.  
EASA-Eröffnungsvortrag
Joao de Pina-Cabral, Präsident der EASA

Als wir unsere Gesellschaft vor 15 Jahren gründeten, konnten wir die weitere Vereinigung des heutigen Europa vorhersehen. Eine solche Vereinigung war für viele von uns ein großer Wunsch. Sie sollte die Folgen der grausamsten Kriege zu einem Ende bringen.

Die Grenzen und Mauern, welche wir davon geerbt haben, hinderten uns "face-to-face" zu treffen - im Sinne eines kreativen Dialogs, wie wir ihn heute erfassen. Die Europäische Union war für viele der einzige Weg, die nationalen und regionalen Identitäten zu bewahren.
...
Unter dem Titel "Face to Face: connecting distance und proximity" diskutierten vom 8. bis 12. September 2004 mehr als 800 TeilnehmerInnen in Wien unterschiedliche und manchmal widersprüchliche soziale Auswirkungen von Prozessen der Globalisierung.
->   Face to Face: Connecting Distance and Proximity
...
Neue Kriege, alte Ungerechtigkeiten
Wer hätte erwartet, dass die Realisation eines solchen Traumes von solch einem Unbehagen begleitet ist, wie wir es heute verspüren. Jenseits unserer nächsten Grenzen wurden wir in einen Krieg hineingezogen, den der Großteil der europäischen Staatsbürger nicht wollte, da sie sich noch zu gut an die Schrecken und Folgen eines Krieges erinnern konnten.

Unsere Grenzen werden mit einer immer größeren Heftigkeit kontrolliert. Die Europäer wurden Hauptakteure in einer der weltgrößten Ursache für Ungerechtigkeit. Der ungerechten Verteilung von Ressourcen nach Geburtsort durch den Gebrauch von Pässen.
Sozialdemokratisches Erbe in den Wind geschrieben
Auch innerhalb Europas gibt es Grund zur Besorgnis. Die Instrumente für eine größere Transparenz in der Regierung der europäischen Union scheinen uns zu umgehen.

Das sozialdemokratische Erbe der staatlichen Institutionen, welches die Staatsbürger vor der schlimmsten Ausbeutung des Kapitalismus bewahren soll, wurde in den Wind geschrieben, als ob es ein unnützer Aberwitz gewesen wäre.
Viele Wege der "face-to-face"-Begegnung
Der alte Geist der bürokratischen Verwirrung - und ihrer folgenden Ungerechtigkeit und Unvernunft - hat uns anscheinend durch die Einführung von Computern völlig neu eingeholt.

Das Thema unserer Konferenz - "Face-to-Face: Connecting distance and proximity" - sollte als vielschichtig verstanden werden, denn es gibt viele Wege sich "face-to-face" zu begegnen und viele Möglichkeiten Nähe und Distanz zu verbinden.

Wie auch immer, unser Ziel war und ist es, unsere Diskussionen auf ein größeres Bewusstsein über die Komplexität von Andersartigkeit zu richten.
Andersartigkeit und Ähnlichkeit nicht symmetrisch
Anthropologen/Ethnologen haben lange Zeit lang mit einem exzessiv soziozentrischen Begriff des Andersartigen operiert. Der Ähnlichkeit als gegeben angenommen hat und Andersartiges nur in Gruppenbegriffen gesehen hat.

Wir verabsäumen oft zu sehen, dass Andersartigkeit und Ähnlichkeit nicht symmetrisch sind und dass menschliche Anteilnahme regelmäßig in der Lage ist Andersartiges miteinzubeziehen, bis zu einem Punkt, der sogar über die menschliche Spezies hinausgeht.
Spezielle Aufgabe der Anthropologie
Als Anthropologen und Anthropologinnen haben wir eine spezielle Aufgabe. Unser wissenschaftlicher Beruf und unsere intellektuelle Disziplin haben eine lange Geschichte von menschlichem Engagement und Anti-Rassentrennung, welches auf unsere intellektuellen Vorfahren zurückgeht und wir sehr schätzen.

Aber es gab auch andere, deren Schriften wir uns auch noch gut erinnern und denen wir nicht folgen wollen.

Als ein Staatsbürger von Portugal - ein Land, welches eine lange und junge Geschichte der Kolonialisierung und des Faschismus durchging - entsinne ich mich dem sehr gut. Darüber hinaus haben unsere gut gemeinten Aktivitäten nicht immer zu dem geführt, was wir uns vorstellten.
Inspirierendes Erbe
Dies sind jedoch keine Gründe, um zu verzweifeln oder aufzugeben. Anthropologie hat uns ein inspirierendes Erbe hinterlassen, dessen wir uns annehmen und darauf aufbauen. Wir würden nicht alle hier sein - jedes zweite Jahr mit ansteigender TeilnehmerInnenzahl - wenn dem nicht so wäre.

Lasst und aufhören unsere Disziplin zu schelten, uns scheinheilig wegen der Fehler der Vergangenheit auf die Brust zu schlagen und ein blindes Auge auf die Fehler der Gegenwart zu haben. Lasst uns dieses Erbe vom Verständnis annehmen und damit konstruktiv arbeiten - in einer Welt, deren Zukunft ernsthafte Zweifel hervorruft.
Auf uns selbst schauen - wie auf "Andere"
Bei der Eröffnung in Barcelona vor acht Jahren, hat Frederic Barth für ein größeres Engagement der Anthropologie gegen das Elend dieser Welt plädiert. Er argumentierte, dass Anthropologen und Anthropologinnen versuchen sollten, die praktischen Probleme, welche die Menschen überhäufen, zu erreichen.

Ich möchte ihn dabei unterstützen, aber ich möchte auch ein wenig die Perspektive ändern.

Wir brauchen nicht glauben und handeln, als stünden wir außerhalb, in dem geschützten Gebiet eines reichen Mannes, der auf das Elend der anderen in der Welt hineinschaut. Nein, wir sollten unsere Anthropologie in all ihren Begegnungen, "connecting distance and proximity" erfassen; indem wir auf die "Anderen" schauen, aber gleichzeitig auf uns selbst wie "Andere".
Gegenseitiges Lernen
Ich lege den europäischen Ethnologen und Ethnologinnen nahe, dass wir eine Menge von unseren Kollegen aus anderen Kontinenten lernen können. Manche dieser intellektuellen Traditionen bestehen seit über einem halben Jahrhundert und waren für die Kollegen der Herkunftsländer, aber auch für die Kollegen und Kolleginnen in Europa inspirierend.

Ich möchte nicht, dass mein Anliegen als ein eurozentristischer Diskurs in der Anthropologie verstanden wird. Im Gegenteil. Seit langer Zeit habe ich das Gefühl, dass wir die Grenze zwischen nationaler Ethnologie und exotischer Anthropologie, welche noch in so vielen Instituten andauert, überwinden.

Es sind intellektuelle Termini, die keine Verwendung mehr finden in einer Welt, wo Distanz und Nähe überall sind, nah und fern, und wo Anthropologie notwendigerweise symmetrisch ist.
->   Alle Beiträge von Andre Gingrich in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick