Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Sigmund Freud: Zwischen Respekt und Skepsis  
  Meine persönlichen Erfahrungen mit der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse sind von tief greifenden Ambivalenzen geprägt. Vertrauen und Respekt gegenüber einigen ihrer Aspekte stehen für mich im Widerstreit zu Skepsis und Zweifel gegenüber einigen anderer ihrer Aspekte. Vielleicht belegt dies am besten, dass die Psychoanalyse immer noch zu irritieren vermag.  
Respekt für geistesgeschichtliche Leistung
Zunächst zu jenen Dimensionen, für die ich Respekt und Vertrauen empfinde. Mein Respekt und meine Sympathie gelten der Psychoanalyse zunächst als einer geistesgeschichtlichen Strömung im Wien der untergehenden Monarchie und der Ersten Republik.

Diese Strömung entfaltete ein kritisches und innovatives Potential für etliche Bereiche der Wissenschaften und der Künste, und wurde durch antidemokratische und totalitäre Strömungen bekämpft, verfolgt und ins Exil verdrängt.

Schon aus den Lebensgeschichten meiner Eltern heraus, deren Jugend durch Opposition zu Hitler geprägt war, betrachte ich diese geistesgeschichtliche Dimension der Psychoanalyse als Teil der humanistischen Traditionen dieses Landes und seiner Identität, aber auch als ein positives Element von dem, was der Westen insgesamt hervorgebracht hat.
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science.ORF.at hat seine Hosts und weitere Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz eingeladen, im "Freudjahr 2006" zur Aktualität der Psychoanalyse zu schreiben. Andre Gingrich macht mit diesem Text den Anfang.
->   science.ORF.at-Archiv zur Psychonanalyse
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Erfolgreiche Kindertherapie
Hinzu kommt noch ein weiteres biographisches Moment, das für mich den "Vertrauensfaktor" ausmacht. Vom fünften bis zum zehnten Lebensjahr durchlief ich eine Kinder-Analyse.

Im Zuge der Trennung und Scheidung meiner Eltern war ich in eine schwere Identitäts- und Verhaltenskrise geraten, weshalb sich meine Eltern für diesen Behandlungsweg entschieden, der im Wien der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre noch keineswegs selbstverständlich war.

Die wesentlichen Stationen dieser Krise, wie auch die Etappen und Erfahrungen dieser Therapie habe ich noch in sehr guter Erinnerung, ebenso wie die wesentlichen Ergebnisse. Die psychoanalytische Kindertherapie verschaffte mir zunächst Linderung und Erleichterung, dann zunehmend auch innere Ruhe und Klarheit, bis schließlich in mir die Lebensfreude wieder erwachte.
Dankbarkeit
Insofern empfinde ich eben nicht nur aus intellektuellen Gründen Respekt und Sympathie für die geistesgeschichtlichen Seiten des Werkes von Sigmund Freud und für viele seiner Folgewirkungen.

Parallel dazu, und verbunden damit, habe ich auch so etwas wie eine tief empfundene Dankbarkeit, und ein damit verwobenes, stark in mir verwurzeltes Grundvertrauen zu vielen ihrer therapeutischen und methodischen Praktiken:

Dies zum Einen aus dem soeben genannten Grund, also deshalb, weil ich manche dieser therapeutischen und methodischen Praktiken an meiner eigenen Person als äußerst wohltuend und hilfreich beim Umgang mit einer kindlichen Lebenskrise erfahren habe.
Psychonanalyse auch methodisch wertvoll
Zum anderen sind mir aber auch manche dieser therapeutischen und methodischen Praktiken der Psychoanalyse als Intellektuellem und Wissenschafter durchaus sympathisch. Für mich als Kultur- und Sozialanthropologen ist zum Beispiel sehr viel von dem brauchbar und respektabel, was sich seit den 1960-er Jahren "Ethnopsychoanalyse" nannte und nennt.

Das ist eine Arbeitsrichtung, die von Paul Parin und Fritz Morgenthaler begründet und von Mario Erdheim, Maya Nadig, Florence Weiss und Josef Reichmayer weiter entwickelt und ausgebaut wurde.

Als eine unter mehreren möglichen Methoden von interkulturellen Begegnungsformen, als gesprächsorientierte Zugangsweise zu anderen Kulturen stellen diese "ethnopsychoanalytischen Prozesse" also aus meiner Warte eine positive methodische Ergänzung und Bereicherung auch für die Forschungspraxis meines eigenen Faches dar.
Dennoch einige Grundzweifel
Bei aller positiven Wertschätzung der Psychoanalyse, ihrer geistesgeschichtlichen Stellung und bezüglich ihrer biographischen Bedeutung für mich und Andere als therapeutisches Verfahren, bei allem Respekt auch für wichtige methodische Bereicherungen:

Einige Grundzweifel gegenüber der Psychoanalyse habe ich nie ganz ablegen können, und in den letzten Jahren haben sich diese Grundzweifel gegenüber einigen ihrer Dimensionen verfestigt zu einem Vorbehalt.
Eher konfessionelle als wissenschaftliche Strukturen
Ein Bündel meiner Zweifel speist sich aus der eigenartigen Aufspaltung der psychoanalytischen Arbeitsrichtungen in zahllose Grüppchen und Strömungen, die sich untereinander oft recht ablehnend gegenüberstehen und in ihrem Inneren jeweils anderen Lehrmeinungen folgen.

Das alles erinnert mich eher an bestimmte Sekten und Geheimbünde im Islam, an linksradikale Splittergruppen der 1960er- und 1970er-Jahre, oder auch an die Vielzahl von hermetischen Gruppen von protestantischen Eiferern in den USA.

Mit einem Wort, schon ihr organisatorisches, symbolisches und rituelles Erscheinungsbild, das die Psychoanalyse im Laufe von Jahrzehnten offenbar kaum imstande war abzulegen, verweist eher auf konfessionelle und kaum auf wissenschaftliche Grundstrukturen.
Kaum noch entscheidende Impulse
Ein zweites Bündel meiner Zweifel speist sich von daher, dass die Psychoanalyse meinem Fach, der Kultur- und Sozialanthropologie (Ethnologie) in theoretischer und systematischer Hinsicht eigentlich immer nur sehr beschränkte Impulse verleihen konnte.

Diese Impulse gab es, daran besteht kein Zweifel. Aber sie waren eben doch sehr in ihrer Zeit und in ihrer Reichweite limitiert, und sie liegen mittlerweile viele Jahrzehnte zurück.

Es ist dabei fast so wie mit einer alten unglücklichen Liebesgeschichte, aus der trotz wiederholter Anläufe dann doch wenig mehr wurde als ein paar Impulse eben. Wie sonst, wird es wohl auch in diesem Fall an beiden "Partner/inne/n" gelegen sein, dass nichts draus wurde; also auch an meinem eigenen Fach.
Mangelnde Emanzipation aus dem Kontext?
Dennoch: Es gibt mir zu denken, dass eine Richtung, die sich so sehr um das Wesen der Menschen bemüht wie die Psychoanalyse, einem Fach wie der Kultur- und Sozialanthropologie, dem es um die soziokulturellen Dimensionen des Menschen geht, in all den Jahrzehnten so wenige bleibende systematisch- theoretische Impulse vermitteln konnte.

Liegt es etwa daran, dass die theoretischen Grundansätze der Psychoanalyse von Anfang an ein Kulturprodukt ihrer Zeit und ihres Milieus waren, nämlich der wohlhabenden Kreise in spät- und postkolonialen Metropolen?

Andere (ich meine: auch mein eigenes Fach) haben sich aus diesen ihren Entstehungskontexten emanzipiert: Hat das die Psychoanalyse jemals vermocht?
Verdichtung eines Vorbehalts
Diese ersten beiden Bündel von Zweifel verdichten sich bei mir zu einem bestimmten Vorbehalt: Vielleicht ist es noch offen, ob die Psychoanalyse zu einer wissenschaftlichen Arbeitsrichtung im umfassenden Sinn werden kann oder nicht.

Dazu bedarf es wohl überprüf- und widerlegbarer theoretischer Prämissen. Nur dann transformiert sich eine quasi-konfessionelle Strömung nämlich zu einer wissenschaftlichen Arbeitsrichtung - wenn ihre eigenen Grundlagen nämlich keine unhinterfragbaren Glaubensgrundsätze bleiben, sondern veränderbare und kritisierbare Arbeitsprinzipien.
"Wissenschaftlichkeit" weiter in Diskussion
Es gibt also WissenschaftlerInnen die meinen, dass die Psychoanalyse nicht bloß eine respektable geistesgeschichtliche Tradition und eine sinnvolle therapeutisch-methodische Praxis darstellt, sondern dass sie auch eine respektable wissenschaftliche Richtung ist.

Dem gegenüber gibt es aber auch viele andere, die einen völlig konträren Standpunkt vertreten: Die Psychoanalyse habe viele Verdienste, aber eine selbstständige kultur- und geisteswissenschaftliche Arbeitsrichtung sei sie niemals geworden, ganz zu Schweigen vom Scheitern des ursprünglichen Freud'schen Ziels, nämlich der Erlangung von Legitimität bei Medizin und Naturwissenschaften.

"Sometimes, the answer lies at both extremes", sagte einmal der von mir verehrte amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins. Vielleicht ist das auch in diesem Fall ein sinnvoller Zugang.
Verbleiben am Rand der Wissenschaften ...
Daraus würde sich ergeben: Ein Randdasein im kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Betrieb der westlichen Forschungslandschaft ist sicherlich erreicht worden durch die Psychoanalyse.

Viel mehr als das ist es aber weder in Skandinavien noch im französischsprachigen, und weder im deutsch- noch im englischsprachigen Raum in den Spitzen- und Kompetenzzentren der jeweiligen akademischen Landschaften.

Vielleicht wollen die Mehrheit der wissenschaftlich interessierten PsychoanalytikerInnen auch gar nicht mehr als das: vom Rand aus irritieren und begrenzte Anstöße und Impulse vermitteln.
... wird nicht lange gut gehen
Diese Haltung ist sympathisch und hilfreich, aber sie kann sich auf die Dauer als nicht ausreichend erweisen. Die Konkurrenz schläft nicht. Andere Richtungen als die Psychoanalyse arbeiten zielstrebig zu ähnlichen und identen Themen wie sie, und mit größerer Bedachtnahme auf wissenschaftliche Grundregeln.

Deshalb meine ich persönlich: Diese Doppelexistenz hat wohl ein Ablaufdatum: Sowohl eine quasi-konfessionelle Sekte außerhalb des Wissenschaftsbetriebes zu sein, als das säkular-freiberufliche Pendant zum pastoralem Seelsorger oder zum esoterischen Guru etwa, als auch eine kritische Randgröße innerhalb des Wissenschaftsbetrieb sein zu wollen - das wird auf die Dauer nicht gut gehen.
Revisions- und Innovationsbereitschaft nötig
Als kritische Randgröße im Wissenschaftsbetrieb wird sich die Psychoanalyse offen und selbstkritisch der Konkurrenz stellen müssen, und sich mit anderen Richtungen in Psychologie, Kognitionsforschung, Philosophie oder Kulturtheorie auf eine solche Weise im wissenschaftlichen Wettbewerb messen müssen, die den Grundregeln dieses Betriebes einfach entsprechen.

Dazu gehört eine Revisions- und Innovationsbereitschaft gegenüber den eigenen Grundannahmen. Solange diese hingegen über Jahrzehnte hinweg sakrosankt bleiben, handelt es sich wohl eher um ein Glaubenssystem.

[10.1.06]
->   Freud-Jahr 2006 in oe1.ORF.at
 
 
 
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