Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Ethnologie: Wissenschaft hilft Konflikte lösen  
  Dass Mediation ein altbewährter Friedensmechanismus aus Arabien ist, wissen wohl die wenigsten. Ähnlich unbekannt ist eines der wichtigsten Aufgabenfelder der modernen Ethnologie: Verständnis und Dialog zwischen Kulturen zu fördern  
Lokalkonflikte bestimmen die Politik
Die Hoffnungen auf neue Wege zum Frieden, die
nach dem Fall der Berliner Mauer und des alten
Ost-West Gegensatzes weit verbreitet waren,
scheinen heute frustriert. Weltweit entstehen
neue Lokalkonflikte, in denen noch weniger als
früher zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden
ist.

Was kann eine sozial- und kulturwissenschaftliche
Disziplin wie die Ethnologie zum Verständnis für
diese Bedrohungen des Friedens beitragen?
Welche Lösungsmöglichkeiten bietet dieses Fach
nicht nur für den "großen" Alltag der Weltpolitik,
sondern auch für den "kleinen" Alltag in Familie
und Betrieb?
Zum
Als Wissenschaft, die systematisch nach fremden
wie eigenen kulturellen Zusammenhängen fragt,
ist die Ethnologie und Kulturanthropologie ein
Fach des systematischen interkulturellen Vergleichs.

Im Vordergrund steht die Frage nach der
Friedensfähigkeit heutiger Gesellschaften.
An Stelle des früheren globalen, "kalten" Krieges
mit strategisch ausgewählten Stellvertreter-
Potentialen sind heute weitgehend neue Konfliktfelder
entstanden, denen zunächst vor allem eines gemein ist:
sie werden nicht mehr primär von Moskau oder Washington
dirigiert.

Verschiedene Studien haben diese neuen Konfliktfelder
nach dem Ende des "kalten" Krieges mehrheitlich
in drei Grundtypen für die 90er Jahre unterschieden.
Da sind erstens die "Restprodukte des Kalten Krieges",
wie etwa die fortdauernden Konflikte in Korea,
in China/Taiwan oder auch im nahen Osten.
Zweitens die "postsozialistischen Konflikte",
Umbaus von ehemals sozialistischen Staaten
die sich direkt im Zuge des Zerfalls und
neu entwickelt haben. Hierzu zählen zum Beispiel
die Konfliktfelder in Teilen Zentralasiens und
des Nordkaukasus, und auch der Bürgerkrieg
im ehemaligen Jugoslawien.

Als dritten Typus schließlich ist die Form der neuen
"postkolonialen Grenz- und Bürgerkriege" zu nennen.
Hierzu zählen u.a. die Konflikte in Sri Lanka oder in
den Regionen von Rwanda, Burundi oder
der nur allmählich eindämmbare Bürgerkrieg in Somalia.
Eine besonders explosive Sonderform dieser postkolonialen
Grenz- und Bürgerkriege ist auch durch die
angespannte Situation in Kashmir zwischen den
südasiatischen Nukleargiganten Indien und Pakistan
gegeben.
...
Heute sind es eindeutig vor allem lokale und regionale Faktoren die die neuen Konfliktfelder prägen.
Konflikte werden zwar nach wie vor beeinflußt. Doch sie entziehen sich inzwischen weitgehend den herkömmlichen Kategorien der internationalen Politik (Frank, Gingrich und Maierhofer 2000).

Weniger Juristen und Poltikwissenschafter sind es, sondern Ethnolgen entwickeln heute mögliche Lösungsmodelle.
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Spannungsfelder in der EU
Innerhalb des EU-Raumes spielt sich ein Großteil der Spannungspotentiale ab.
Im Beziehungsfeld zwischen alteingesessenen kulturellen
und sprachlichen Minderheiten, der durch Arbeitsmigration
und Fluchtbewegungen im EU- Raum entstandenen neuen
Minderheiten, und zwischen diesen neuen Minderheiten und den alteingesessenen sprachlich- kulturellen Mehrheiten innerhalb der jeweiligen Nationalstaaten der EU.

Nationalstaaten innerhalb der EU, werden im Rahmen
des europäischen Integrations- und Erweitungerungssprozesses immer unwichtiger, die Mechanismen des Integrations- und Erweiterungsprozesses hingegen gewinnen an Gewicht.

Neonationalistische Reaktionen gegen diese Tendenzen
sind mittlerweile in Europa keine Seltenheit mehr.
EU-Integration und Globalisierung
Es ist gerade die Verbindung und Wechselbeziehung
zwischen dem Lokal-Regionalen und dem Europäischen
und Globalen, was entscheidend ist für ein Verständnis und
ein Schaffen von "Frieden bei uns".
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Konfliktlösungen jenseits der Schlagzeilen
Ethnologische interkulturelle Kompetenz hat auch in der
Zivilgesellschaft der jeweiligen sprachlich-kulturellen
Mehrheiten der EU- Länder längst Fuß gefaßt.

Wie etwa die Arbeit von visuellen AnthropologInnen
unter Großstadt-Jugendlichen im Rahmen von kommunalen
oder NGO-Servicestellen in London, Berlin, Antwerpen oder
auch in Wien.

Worüber die Medien nicht berichten sind ethnischen Konflikte. Hier setzen die Ethnolgen an, wie z.B. Ehre und Schande eine Fehde beeinflussen und was das mit Clan- Kämpfen in Somalia zu tun hat oder wie Vorstellungenvon Reinheit und Unreinheit ganze ethnische Gruppen gegeneinander mobilisieren können.
Oder als anderes Beispiel: die explosiven Spannungen in Kaschmir und Sri Lanka.
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Ethnolgie und Wirtschaft
Nicht nur in der Politik sondern auch in der Wirtschaft sind Ethnolgen mehr denn je gefragt. Denn gerade bei Verhandlungen ist es wichtig nicht nur die gemeinsame Verhandlungssprache zu sprechen, sondern auch die kulturell bedingten Umgangsformen des Verhandlungspartner zu kennen und zu akzeptieren. Bereits die kleinste falsche Handbewegung kann in einer anderen Gesellschaft zum Scheitern wichtiger Verhandlungen führen.

Ein weiteres ethnologisches Betätigungsfeld ist das
Betriebs- und Unternehmens- Consulting.
Einer der Bestseller für innerbetriebliche Verhandlungen am internationalen Buchmarkt ist etwa von zwei Harvard- Professoren verfaßt - der eine ist Jurist und der andere ist Ethnologe (Fisher and Ury 1991).
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Literaturangaben:
Fisher, R. and Ury, W.: "Getting to Yes: Negotiating agreement without giving in." (2nd edition, with Bruce Patton), New York: Penguin 1991

Frank, M. A., A. Gingrich und S. Maierhofer: "Viele Kulturen " eine Welt. Wie schließen wir Frieden mit Anderen?" In: "Krieg oder Frieden " Vom Kult der Gewalt zur Kultur des Friedens." Katalog der Burgenländischen Landesausstellung 2000, Burgenländische Forschungen Sonderband XXIII, Eisenstadt.

Gingrich, A.: "Erkundungen. Themen der ethnologischen Forschung." Wien , Köln , Weimar: Böhlau 1999
->   http://www.univie.ac.at/Voelkerkunde/PUBS/gingbuch.htm
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