Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft 
 
Pilgerstätten im Nahen Osten gewinnen an Bedeutung  
  Eine soeben erschienene Studie beschäftigt sich mit dem volksreligiösen Pilgerwesen im Nahen Osten: Lokale Heiligtümer scheinen in Zeiten der Globalisierung zunehmend an Bedeutung zu gewinnen.  
Globalisierung führt (auch) zu Rückbesinnung auf Lokales
Bild: Gebhard Fartacek
Die Pilgerstätte des Propheten Huri in Nordsyrien
Dass Globalisierung und freier Warenverkehr nicht automatisch zu einer kulturellen Gleichschaltung ethnischer Gruppen führt, wurde bereits in einer ganzen Reihe von ethnologischen Forschungsarbeiten deutlich, die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts: "Lokale Identitäten und überlokale Einflüsse" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wurden.

Wie alle diese Untersuchungen belegen, lässt sich in der Gegenwart in spezifischen Kontexten auch eine Wiederbelebung ganz bestimmter lokaler Rituale beobachten. Ein Beispiel für eine solche Rückbesinnung auf Lokales ist das Pilgerwesen in der syrischen Peripherie.
20 Pilgerstätten in Syrien untersucht
Bild: Gebhard Fartacek
Heilige Bäume bei einem
Pilgerplatz im Ladiqiya-Gebirge (Syrien)
Insbesondere für den nordarabischen Raum waren ethnologische Untersuchungen zu volksreligiösen Vorstellungen und Praktiken bislang noch echte Mangelware. Die neue Studie konnte diesem Manko entgegentreten und brachte eine ganze Reihe bemerkenswerter Untersuchungsergebnisse zutage.

Im Zuge umfassender ethnologischer Feldforschungen wurden zwanzig Pilgerstätten in vornehmlich abgelegenen und nur schwer zugänglichen Gebieten der heutigen Arabischen Republik Syrien dokumentiert und analysiert. Dabei zeigte sich unter anderem, dass erst in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl dieser Pilgerstätten erheblich ausgebaut wurden und beachtliche Kapazitäten erlangt haben.
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Fallbeispiel: Das Grab von Abel
So bietet etwa die Grabanlage von Abel, rund vierzig Kilometer westlich von Damaskus, heute Übernachtungsmöglichkeiten für mehr als zweihundert Pilger. Noch in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde diese Pilgerstätte von den beiden Volkskundlern Kriss/Kriss-Heinrich als einsam und verlassen beschrieben. Die gesamte Wallfahrtsanlage bestand damals aus einem einzigen Kuppelbau mit einem drei mal fünf Meter großen Grundriss.
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Vorislamische Relikte: Naturheiligtümer und die Segenskraft Gottes
Die meisten dieser sakralen Plätze dürften bereits auf vorislamische Zeit zurückgehen und sind als so genannte "Naturheiligtümer" klassifizierbar. Gekennzeichnet sind sie beispielsweise durch bizarre Baumgruppen, Felsspalten, Höhlen oder Heilquellen.

Diese topographischen Besonderheiten sind es auch, die in der Sichtweise der Pilger den sakralen Platz auszeichnen und ihn von der profanen Umgebung abgrenzen. Darüber hinaus werden die Pilgerstätten im Nahen Osten auch mit dem Vorhandensein göttlicher Segenskraft und mythologischen Persönlichkeiten assoziiert.
Mythologische Legenden
Bild: Gebhard Fartacek
Außenansicht der Grabkammer des Erzengels
Gabriel im Drusen-Gebirge (Syrien)
Stets ranken sich eine Vielzahl von Legenden um diese Heiligtümer. Sie geben eine "mytho-logische" Antwort auf die Frage, warum der Platz heilig ist und in welchem Kontext die jeweiligen naturbedingten topographischen Besonderheiten stehen.

Außerdem geben sie Aufschluss über die Beziehung des sakralen Platzes zu historischen Gegebenheiten und zu jenen Vorkommnissen, die in Bibel und Koran dokumentiert sind. Auf diese Weise stellen die mythologischen Legenden eine Verbindung zu den schriftlichten Glaubensdoktrinen her.
Treffpunkt von Andersgläubigen
Interessanterweise werden die Pilgerstätten im Nahen Osten in der Regel von Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gleichermaßen besucht. Sunnitische Muslime, Christen unterschiedlicher Konfession, Drusen, Alawiten und Ismailiten pilgern oft zu den gleichen sakralen Plätzen und kommen dort miteinander ins Gespräch.

Bemerkenswert ist dies insofern, als die ethnisch-religiösen Gruppen im alltäglichen Leben nahezu ausschließlich untereinander interagieren. Doch am sakralen Platz herrscht eine Ausnahmesituation. Die interethnischen Kontakte, die im Zuge der Pilgerfahrten entstehen, werden von den betroffenen Menschen äußerst positiv bewertet.
Stätten der Versöhnung und der Konfliktbewältigung
Bild: Gebhard Fartacek
Votivgaben am Grab der Heiligen Thekla
in Ma'alula (Qalamungebirge, Westsyrien)
Der sakrale Platz ist in der Sichtweise der Pilger gekennzeichnet von der Umkehrung der Charakteristika der Alltagswelt. Dieses lokale Konzept eröffnet ganz spezielle Möglichkeiten: Die Pilgerstätten werden zum Feld intensivierter sozialer Interaktion.

Manchmal von den Vertretern des orthodoxen Islams oder christlichen Hardlinern kritisch beäugt, hat das lokale Pilgerwesen im Nahen Osten auch eine gewohnheitsrechtliche Dimension: So kann es etwa vorkommen, dass Konfliktparteien, die nicht mehr miteinander sprechen, sich am sakralen Platz versammeln, um dort ihre Streitigkeiten beizulegen. Die Pilgerstätten können auf diese Weise zu Stätten der Wahrheitsfindung, der Rehabilitation und der Versöhnung werden.
Neue Buchpublikation zu den Pilgerstätten
Im vorliegenden Buch werden zwanzig dieser syrischen Pilgerstätten vorgestellt, die mit ihnen verbundenen Mythen und Legenden werden nacherzählt. Zahlreiche farbige Abbildungen liefern Eindrücke von den Höhlen, Felsspalten, Berggipfeln, bizarren Bäumen oder Heilquellen, an denen die Heiligtümer gelegen sind.

Im zweiten Teil des Buches geht der Autor der Frage nach, warum gerade diese Orte als heilig gelten, und er ergründet, welche Bedeutung sie im heutigen Alltagsleben der Syrer besitzen.
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"Pilgerstätten in der syrischen Peripherie"
Fartacek, Gebhard (2003): Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und deren Praxisrelevanz. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse 700. Band, Veröffentlichungen zur Sozialanthropologie Nr. 5
Wien
->   Das Buch im ÖAW-Verlag
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Zentren der Kommunikation
Im Zuge dessen wird deutlich, dass die Pilgerstätten in der syrischen Peripherie als räumliche Zentren der Kommunikation aufgefasst werden können. Sie bilden sowohl die essentiellen Brücken zur anderen (göttlichen) Welt als auch die essentiellen Brücken in dieser (alltäglichen) Welt.

Sie sichern die religiöse Kommunikation mit Gott und sie gewährleisten die soziale Kommunikation der Menschen untereinander in all jenen Bereichen, wo sie normalerweise nicht mehr möglich wäre.
->   ÖAW
->   Nähere Informationen zu dieser Buchpublikation (Wittgensteinpreis 2000)
 
 
 
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