Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft 
 
Traditionelle Heiler am Dach der Welt  
  Die Ethnologie der tibetischsprachigen Gebiete des Himalaya ist einer der Schwerpunkte, die von mir auf der Kommission für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften betreut und gefördert werden. Mein wissenschaftlicher Mitarbeiter Stephan Kloos legte kürzlich eine Studie zu traditionellen Heilern in schwer zugänglichen Grenzregionen Ladakhs vor. Hier ist sein Bericht.  
Tibetische Medizin in ungewöhnlichem Kontext
von Stephan Kloos

Das Dorf Hanu Gongma liegt auf etwa 3.200 Meter Seehöhe in einem fruchtbaren, aber entlegenen Seitental des Indus in Ladakh, und wird von der indo-europäischen Minderheit der buddhistischen Darden bewohnt. Die Darden Hanu Gongmas sind insofern eine Besonderheit, dass sie im 16. Jahrhundert Sprache und kulturelle Elemente der ladakhischen Herrscher annahmen, und so heute die einzige nicht-tibetische Gruppe der Welt sind, die traditionelle tibetische Medizin praktiziert.
Die soziale Rolle der Heiler im Mittelpunkt
Bild: Stephan Kloos
Heute ist die traditionelle Praxis der tibetischen Medizin, obwohl das Hauptstandbein der öffentlichen Gesundheitsversorgung im ländlichen Ladakh, durch moderne Entwicklungen auf sozialer und medizinischer Ebene in ihrer Qualität und oft auch Existenz bedroht.

In einer fünfmonatigen Feldforschung gelang es mir als erstem, nicht nur die Geschichte der tibetischen Medizin in dieser ethnischen Gruppe von ihren Anfängen an zu rekonstruieren, sondern auch eine grundlegende Analyse der heutigen Situation der traditionellen Heiler (genannt "Amchi") in Hanu Gongma und darüber hinaus zu erstellen.

Dabei stellte sich schnell die zentrale Wichtigkeit der sozialen Rolle des Amchi heraus, in der Gegensätze wie Tradition und Moderne, Individuum und Gesellschaft aufeinanderprallen, und die den Amchi als vielschichtiges gesellschaftliches Produkt dieses Zusammenstoßes erscheinen lässt.
Ende der Monopolstellung ...
Das Grundproblem der heutigen Amchi im ländlichen Ladakh ist, dass medizinische Praxis für sie zu einem Verlustgeschäft geworden ist. Während früher die Dorfgemeinschaft für den Unterhalt des Amchi sorgte, sodass sich dieser seiner medizinischen Praxis (die ja wieder dem Dorf zugute kam) widmen konnte, ist dies heute aus verschiedenen Gründen, vor allem aber durch die Einführung der Marktwirtschaft und westlicher Medizin, nicht mehr der Fall.

Einerseits wird es für Dorfbewohner wirtschaftlich immer schwieriger und unattraktiver, Amchi ausreichend zu versorgen, andererseits schwindet mit der medizinischen Monopolstellung der Amchi auch die öffentliche Bereitschaft dazu.
... macht Medizin zu einem Verlustgeschäft
Bild: Stephan Kloos
Umgekehrt aber sind die Amchi nach wie vor an ihre traditionelle Rolle gebunden, die sie verpflichtet, Medizin aus Nächstenliebe und nicht aus Gewinnsucht zu praktizieren, wodurch es besonders in den Dörfern unmöglich ist, nun Geld einzufordern.

So sind Amchi gezwungen, das für ihre Praxis benötigte Geld durch andere Arbeiten zu verdienen, wodurch ihre Verfügbarkeit ebenso wie die Qualität ihrer Medizin leidet, und letztendlich viele ihre Praxis ganz aufgeben. Die allgemeine Gesundheitsversorgung am Land verschlechtert sich, während Jahrhunderte altes lokalspezifisches Wissen unwiederbringlich verloren geht.
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Medizinische und soziale Macht
Die soziale Rolle eines Amchi vereint nicht nur traditionelle Werte und moderne Anforderungen, sondern ist grundlegend von dem Zusammenspiel zwischen medizinischer Macht (die Macht Krankheit zu heilen) und sozialer Macht geprägt. Bis vor kurzem bedingte eine Machtform die andere: Medizinische Macht führte, dank der Monopolstellung der Amchi, zu sozialer Macht, die wiederum dazu benutzt wurde, das nötige Einkommen für den Erhalt der medizinischen Macht in Form von Geschenken der Dorfgemeinschaft sicherzustellen.

Wie schon beschrieben, ist den Amchi mittlerweile die soziale Macht abhanden gekommen, was eine fundamentale Änderung ihrer sozialen Rolle bedeutet, die das öffentliche Gesundheitswesen direkt beeinflusst.
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Traditionelle Heiler als Medien
Bild: Stephan Kloos
Manche Amchi haben diese Dynamik erkannt, und eine neue Verbindung zwischen medizinischer und sozialer Macht aufgebaut. Die Fallstudie eines Amchi in Hanu Gongma, auf der meine Arbeit basiert, analysiert eine erfolgreiche Strategie, aber auch deren Schwierigkeiten und unerwünschte Nebeneffekte, die das komplexe Zusammenspiel aus sozialen und wirtschaftlichen Zwängen hervorbringt.

Die Bemühung, den Fortbestand einer Jahrhunderte alten Tradition zu sichern, macht moderne Amchi zu gesellschaftlichen Medien, die den allgegenwärtigen Konflikt zwischen alten und neuen Werten in ihrer Person bündeln und mit mehr oder weniger Erfolg entschärfen. In diesem Sinne fungieren sie als Heiler nicht nur körperlicher oder geistiger Beschwerden, sondern auch der sozialen Probleme einer plötzlichen Modernität.
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Literatur
Auf meine Anregung soll diese Studie demnächst in Zusammenarbeit mit dem bekannten Tibetologen Ernst Steinkellner auch als Buchpublikation in den Wiener Studien zur Tibetologie und Buddhismuskunde herausgebracht werden.

Außerdem werden Artikel von Stephan Kloos in Kürze auf Englisch in Pordié, L. (Hrsg.) "Exploring Tibetan Medicine in Contemporary Context. Perspectives in Social Sciences", und auf Französisch in Pordié, L. (Hrsg.) "Panser le monde, penser les médecines. Essais sur les traditions médicales" erscheinen. Darin werden sowohl der Fall des Amchi in Hanu Gongma als auch die lokalen Aspekte der internationalen Entwicklungszusammenarbeit im Gesundheitsbereich einer tieferen Analyse unterzogen.

Stephan Kloos wird seine Ausbildung wahrscheinlich im Rahmen des Fulbright Programms in den USA fortsetzen können.
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