Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Schlagworte in der Philosophie: Können produktiv sein  
  Schlagworte erleichtern die Orientierung. Das gilt sogar für misstrauische Leserinnen: Es ist vergleichsweise einfach, sie zu hinterfragen. Der schwierige Teil besteht darin, den Wahrheitsgehalt hinter den Vereinfachungen herauszufinden und produktiv zu entwickeln. Michael Friedman hat das in einem jüngst erschienenen Buch meisterhaft verstanden.  
Drei Schlagworte der Philosophie ...
Drei Schlagworte, mit denen Philosophinnen (m/w) einander mitunter provozieren, lauten "Transzendentalphilosophie", "Analytische Philosophie", und "Seinsdenken". Jedes bezeichnet eine Denkrichtung mit eigenen Gründungsvätern, Sprachgebräuchen und Publikumswirkung.

Auf der einen Seite steht die Reflexion auf menschliches Erkennen und Handeln, auf der anderen die formal-logische Analyse wissenschaftlicher Entwicklungen und davon nochmals abgehoben die Grundsatzfrage, was es mit der abendländischen Geschichte insgesamt auf sich hat. Die Positionen reden schnell aneinander vorbei, sofern sie überhaupt miteinander in Kontakt kommen.
... und ihre herausragenden Figuren
Natürlich knüpft sich die Auseinandersetzung auch an Personen. Die bekanntesten Namen sind Kant, Wittgenstein und Heidegger. Aber die Dominanz dieser herausragenden Figuren lenkt davon ab, dass sie in einem geschichtlichen Umfeld groß geworden sind und wirken.

Anders als Eigennamen ist diese historische Situation fließend, nicht eindeutig bestimmbar und multidimensional. Sie enthält divergente Impulse, die sich unterschwellig und überraschend auswirken können. Eine Episode, an der sich derartige Hintergründe gut studieren lassen, bildet den Rahmen für Michael Friedmans Buch.
->   Michael Friedman, A Parting of the Ways : Carnap, Cassirer, and Heidegger
1929 Treffen von Cassirer, Carnap und Heidegger
Ein internationales philosophisches Kolloquium präsentierte im März und April 1929 zwei der angesehensten deutschen Philosophen, Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Unter den Teilnehmern befand sich Rudolf Carnap, zu diesem Zeitpunkt Privatdozent in Wien und Repräsentant des Schlick-Zirkels.

Die Folklore im Lager der Heideggerianer erzählt, dass ihr Held damals einen bedeutenden Erfolg verbuchte. In den Annalen des Wiener Kreises ist die Episode nicht verzeichnet. Ernst Cassirer hatte keine entsprechende Gefolgschaft. Das ist allerdings das Niveau der Fanklubs und der Schlagworte.
->   Linksammlung zu Martin Heidegger
->   Leben, Werk, Rezeption von Martin Heidegger
Spektakuläres Aufeinanderprallen zweier Einseitigkeiten
Carnap und Heidegger stehen für den Konflikt zwischen einer Philosophie, die sich an mathematischer Logik orientiert, und einer Besinnung auf das Wesen der Existenz, die sich zur Aufgabe macht, die abendländische Geschichte auszuloten. Zwei spektakuläre Einseitigkeiten prallen aufeinander.

Michael Friedman findet eine Perspektive, von der aus sie etwas gemeinsam haben. Sowohl Heidegger, wie Carnap sind anfänglich vom so genannten Neo-Kantianismus beeinflusst und setzen sich - in unterschiedlichen Richtungen - von dieser Vorgabe ab. Ernst Cassirer dagegen ist der bedeutendste Neokantianer der 2. Generation.
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Neukantianismus
Was will der Neukantianismus? Es geht ihm darum, im allgemeinen Rahmen der von Kant herrührenden Erkenntnistheorie eine für das beginnende 20. Jahrhundert adäquate Auseinandersetzung mit Natur- und Geisteswissenschaften, Ethik und Ästhetik zu führen.
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Carnaps und Heideggers Kritik
Und was bemängeln Carnap und Heidegger? Der eine hält sich an die Leistungskraft der Frege-Russellschen Logik und rekonstruiert Erkenntnis ohne die Kantsche transzendentale Synthese von Sinnlichkeit und Verstand.

Der andere lässt diese Synthese, das Werk einer über-historischen Vernunftkraft, nicht gelten und sieht den Menschen als durch und durch zeitlich bedingtes Wesen, das sich zu seiner "Geworfenheit" zu entscheiden hat.
->   Rudolf Carnap (Internet Encyclopedia of Philosophy)
->   Rudolf Carnap (Institut Wiener Kreis)
Auch Cassirer löste sich vom Neo-Kantianismus
Es fehlt die Mitte. Sie ist, wie häufig, blasser als die Extrempositionen. Auch Ernst Cassirer hat sich an wichtigen Punkten vom Neo-Kantianismus gelöst. In seiner "Philosophie der symbolischen Formen" greift er auf den Mythos als ursprüngliche Ausdrucksform zurück. Darin liegt eine Nähe zu Heideggers Analyse der "Alltäglichkeit".

Andererseits setzt er sich schon ganz früh mit Albert Einstein auseinander. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist für ihn der Gipfel eines konsistenten Erkenntnisfortschrittes. So baut er eine kühne Brücke zwischen der Lebens- und Existenzphilosophie einerseits, und den Proponenten der objektiven Wissenschaft.
Der stille Held
Das Resultat ist überzogen. Cassirer ist der stille Held M. Friedmans, aber er verschweigt die Schwachstellen seiner gedanklichen Entwicklungen nicht. Die Einheit der Vernunft zwischen Mythos und Mathematik lässt sich kaum plausibel machen. Heidegger und Carnap sind geradezu das Symptom für den Zerfall dieser schönen Hoffnung.
->   Biographie, Bibliographie und Linksammlung zu Ernst Cassirer
->   Ernst Cassirer-Arbeitsstelle
Objektivitätsanspruch und Geschichtlichkeit denken
Das liegt jetzt wieder auf der Ebene der Schlagworte, aber mittlerweile ist eine Hintergrunddimension dazugekommen. Es geht um Versuche, das menschliche Erkenntnisvermögen so zu denken, dass Objektivitätsanspruch und Geschichtlichkeit, Wissenschaft und Gesellschaft, darin ihren rechten Platz finden.

Vermitteln ist auch nicht glücklicher, als trennen. Man kann nach dem Gesagten immerhin darauf verweisen, wie das Problem entstanden ist.
Zerfall ein historisches Produkt
Außerdem wird noch etwas deutlich, wenn wir schon bei Geschichtlichkeit sind. Der Zerfall musste nicht so kommen. Im Deutschland der Weimarer Republik (und ebenso in Österreich) koexistierten widersprüchliche Reaktionen auf die zunehmend einflusslose Traditionsphilosophie.

Erst die Implosion des Faschismus hat die Zusammenhänge derart auseinandergerissen, dass sie in separaten Schulbildungen lange Zeit über Kontinente verteilt und miteinander inkompatibel schienen. (Der philosophische Aufstieg der Existenzphilosophie und des Neo-Hegelianismus bewirkten etwa im Wien der Nachkriegszeit ein trauriges Abgleiten zu internationaler Belanglosigkeit.)
Schlagworte zur Beschreibung historischer Tendenzen
Eine Möglichkeit, Schlagworte positiv zu wenden, ist ihr Einsatz zur Beschreibung historischer Tendenzen. So gesehen stehen die "analytische" und die "kontinentale" Tradition derzeit vor der Aufgabe, ihre eigene Entstehungsgeschichte zu überprüfen und angesichts des Stachels der Konkurrenz eventuell zu re-positionieren.

Pathetisch erscheint mittlerweile nicht so sehr die Geste des Parteimitglieds Heidegger oder des Sozialisten Carnap, sondern die Schwäche im Zentrum. Eine neue Gelegenheit.
->   Michael Friedman (Indiana University)
 
 
 
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