Host-Info
Konrad Paul Liessmann
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Konrad Paul Liessmann :  Wissen und Bildung 
 
Pädagogische Bücher: Vom Elend einer literarischen Gattung  
  "Wissen ist Macht": Mit diesem Satz von Francis Bacon beginnt das Projekt der Moderne. Wissenschaftliches Wissen und die ihm angeschlossenen Technologien ersetzen seitdem auf allen Ebenen die traditionellen Instanzen der Weltdeutung und Weltbewältigung: Religionen, Kulte, Mysterien, Mythen, Magien und Ideologien. In keinen Bereich des Lebens wurde seit der Entwicklung moderner Gesellschaften so viel Hoffnung gesetzt wie in den der Bildung.  
Hoffnung, Utopie und Vehikel
Bildung war die Utopie des Kleinbürgers, dass es zwischen Lohnarbeit und Kapital noch eine dritte Existenzform geben könnte.

Bildung war die Hoffnung der Arbeiterklasse, durch Wissen jene Macht zu erringen, die die misslungenen oder ausgebliebenen Revolutionen verwehrt hatten.

Bildung war das Vehikel, mit dem Unterschichten, Außenseiter und unterdrückte Minderheiten emanzipiert und integriert werden sollten.
Nirgendwo wird soviel gelogen
Bildung gilt als begehrte Ressource im Kampf um die Standorte der Informationsgesellschaft,

Bildung ist das Mittel, mit dem Vorurteile, Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert, die Herausforderungen der Zukunft bewältigt, die Kinder glücklich und die Erwachsenen beschäftigungsfähig gemacht werden sollen.

Gerade weil dies alles nicht geht, wurde und wird in kaum einem Bereich soviel gelogen wie in der Bildungspolitik.
Ideologie säkularer Gesellschaften
Bildung wurde zur Ideologie säkularer Gesellschaften, die weder auf religiöse Transzendenz noch auf revolutionäre Immanenz setzen können. Bildung war von Anfang an ein Motor für die Modernisierungsschübe, gleichzeitig aber auch ein billiger Trost für die schamlos so genannten Modernisierungsverlierer, die, weil ohne Bildung, damit auch an ihrem Schicksal selber schuld waren.
Krise in Permanenz
Bildung fungiert so als Stimulus und Beruhigungsmittel in einem: Sie mobilisiert die Menschen und hält sie, als permanentes Versprechen für bessere Zeiten, das als drohender Imperativ wirkt, gleichzeitig davon ab, sich zu mobilisieren.

Bildung darf gar nicht gelingen, weil dann ihre Beschränktheit deutlich würde: Sie taugt nicht zur Kompensation verlorener Utopien und sie ist schon gar kein Garant für das reibungslose Funktionieren effizienzorientierter Ökonomien.

Deshalb sind Bildungssysteme auch permanent in der Krise, müssen in regelmäßigen Abständen drohende Bildungskatastrophen ausgerufen werden, steigt gerade wegen permanenter Reform der Reformdruck auf Bildungssysteme.
Humboldt an den Kragen
Die alten Bildungsbegriffe und Bildungsinstitutionen, so hört man, müssen durch neue abgelöst werden. Die Aufgaben von Schulen und Universitäten hätten sich gewandelt. Man tut, als müsse man am Beginn des 21. Jahrhunderts gegen die verstaubten Bildungsideale des 19. Jahrhunderts kämpfen.

Kein wirtschaftsnaher Universitätsreformer, der nicht Humboldt an den Kragen will, das Faktenwissen aus den Schulen verbannen und die traditionellen Fächer aufsprengen möchte und statt bildungsbürgerlicher Kopflastigkeit Praxisnähe und eLearning einfordert.
Reformpädagogen gemeinsam mit Neoliberalen
Wenngleich dem neoliberalen Diskurs abhold, stimmen auch die romantischen Reformpädagogen gerne in diese Kritik ein, nur möchten sie statt Leistung und Konkurrenzfähigkeit dann doch lieber Integration, Emotionalität, die Abschaffung der Noten und den kreativen Umgang mit den neuen Medien.
Paradoxe Situation
Die Situation ist deshalb widersprüchlich. Während auf der einen Seite die letzten Reformpädagogen noch rasch versuchen, vom "Jahrhundert des Kindes" zu retten, was zu retten ist, arbeiten andere unter dem Stichwort "Praxisnähe" schon eifrig an der Wiedereingliederung der Halbwüchsigen in den Arbeitsprozess.

Während auf der einen Seite noch von sozialem Lernen, Motivation, Integration, gezielter Koedukation und fachspezifischer Geschlechtertrennung zur Unterstützung von Mädchen die Rede ist, verlangen die anderen im Anschluss an PISA landesweite, geschlechts- und herkunftsneutrale beinharte Leistungstests, um die Bildungsstandortfrage endlich zu klären.
Fordern und Fördern
Während die einen noch immer von der Schule als Idylle des solidarischen Miteinander und von Universitäten als Brennpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen träumen, können die anderen gar nicht genug von Wettbewerb, Konkurrenz, internationalen Rankings, Evaluationen und effizienten Kurzbildungslehrgängen bekommen.

Während die einen noch vom Fördern reden, fordern die anderen schon längst wieder das Fordern, um sich damit auch gleich selbst zu überfordern. Es liegt auf der Hand, dass alles zusammen nicht zu bekommen sein wird.
Bildungsdebatten geprägt von Heuchelei
Die Bildungsdebatten der Gegenwart sind dann auch gekennzeichnet von groß angelegten internationalen Selbstbetrugsmanövern, und zu diesen gehören allemal das mehr oder weniger virtuose Jonglieren mit Statistiken, Zahlen, Vergleichen und Studien.

Und weil dies so ist, gibt es kaum ein Buch, das sich bildungspolitischen oder pädagogischen Fragen widmet, das nicht kontaminiert wäre von diesen Paradoxien und dem daraus entstehenden Zwang zur Lüge, zum Euphemismus, zur Halbwahrheit und zur Heuchelei.
Bei den meisten Pädagogikbüchern "stimmt was nicht"
Weil Bildung und Erziehung mittlerweile Unternehmen geworden sind, die sich in unauflösliche Widersprüche verstrickt haben, ist die grundlegende Erfahrung beim Lesen pädagogischer Bücher die: Etwas stimmt nicht.

Dazu kommt, dass die meisten dieser Bücher auch noch langweilig sind. Aber es gibt Ausnahmen. Ein pädagogisches Buch, das spannend ist und stimmt, muss den Schleier des allgemeinen pädagogischen Verblendungszusammenhangs ziemlich unzart zu zerreißen.
Ausnahme Alfred Schirlbauer

Alfred Schirlbauer, der so ein Buch vorlegt, gelingt dieser unsanfte Akt auf eine Art und Weise, die hinter aller Drastik und Skepsis, hinter allem Zynismus noch immer den ursprünglichen Enthusiasmus des Pädagogen spüren lässt: dafür einzutreten, dass den Unmündigen die Chance auf Mündigkeit nicht genommen wird.

[6.4.05]
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Schirlbauer, Alfred: Die Moralpredigt. Destruktive Beiträge zur Pädagogik und Bildungspolitik, Verlag Sonderzahl, Wien 2005.
->   Mehr über das Buch (Verlag Sonderzahl)
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