Host-Info
Konrad Paul Liessmann
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Konrad Paul Liessmann :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Gedenktage: Freud und die Kultur des Unbehagens  
  Für den von Sigmund Freud so genannten "Kulturmenschen" stellt das Jahr 2006 eine ganz besondere Herausforderung dar: Das Gedenken an Geburt oder Tod von bedeutenden Künstlern, Schriftstellern und Philosophen will in diesem Jahr in Europa kein Ende nehmen. Mozart, Heine, Brecht, Rembrandt, Beckett, Nolde, Arendt, Kolumbus, Ibsen, Schumann sind darunter - und nicht zuletzt Sigmund Freud selbst.  
Kritische Beobachter der Kultur verspüren angesichts dieser Inflation an Gedenktagen in der Regel ein ziemliches Unbehagen. Warum, so könnte man grundsätzlich fragen, überhaupt diese Fixierung auf Gedenktage, auf runde Zahlen, auf festgelegte Jahre der Erinnerung?

Warum genügt es nicht, sich an Künstler, Wissenschaftler oder Schriftsteller dann zu erinnern, wenn die Sache es erfordert? Wenden wir uns in dieser Frage an einen Fachmann für ritualisierte Erinnerungsarbeit, wenden wir uns an Dr. Sigmund Freud.
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Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung von Vorträgen von Konrad Paul Liessmann an der Universität Mexiko am 8. Mai und am Colegio de Mexico am 9. Mai 2006.
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Kultur fordert Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung
In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur aus dem Jahre 1930 gibt es eine sehr einfache, aber dennoch eindringliche Definition von Kultur: Kultur ist die "ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen", in denen sich "unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt, und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und die Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander."

Aus den daraus sich ergebenden "Kulturanforderungen" greift Freud drei Komponenten heraus, an denen sich nicht nur die Leistungen der Kultur, sondern auch die "Kulturhöhe eines Landes" ablesen lassen: "Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung".

Die Beherrschung der Natur und die Regelung des Verkehrs der Menschen untereinander sollen sicherstellen, dass der Mensch wenigstens in einem eingeschränkten Maße nach seinem "Lustprinzip" leben kann. Dazu bedarf es allerdings einer Energie zur Bändigung der Natur, die der Mensch durch Sublimierung seiner ursprünglichen sexuellen Triebenergie gewinnt. Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung sind nicht zuletzt auch Ausdruck dieser Sublimierungsarbeit.
Ordnung: Wiederholungszwang von Zeit und Ort
Im Zusammenhang mit dem Freud-Gedenkjahr interessieren uns neben Schönheit und Reinlichkeit vor allem die Ordnung als die entscheidende Kulturleistung. Ordnung ist, so Freud, eine Art "Wiederholungszwang", die den Menschen "die beste Ausnützung von Raum und Zeit" ermöglicht. Ordnung bedeutet, immer wieder zu ein- und demselben Ausgangspunkt zurückzukehren, etwas so zu verlassen, wie man es angetroffen hat.

Was aber bedeutet die Ordnung der Zeit? Die Rückkehr zu einmal festgesetzten Entscheidungen und die rituell wiederkehrende Erinnerung an Ereignisse, die imstande sind, Gemeinschaften ein kollektives Zeitbewusstsein - ja überhaupt ein Bewusstsein ihrer selbst - zu geben.

In seiner Schrift Totem und Tabu (1912/13), die Freud selbst in hohem Maße spekulativ genannt hatte, war der ursprüngliche Vatermord jenes Ereignis gewesen, das die frühmenschliche "Urhorde" in eine zivilisatorische Erinnerungskultur stürzte: "Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion."
"Wiederkehr des Gleichen"
Zeitordnungen können so überhaupt als Wiederholungen gedeutet werden, schärfer: als Varianten des Wiederholungszwangs. Ob es sich um religiöse Feste wie die Geburt und den Tod Jesu Christi handelt oder um säkulare Erinnerungen an politische Ereignisse oder um das Gedenken an bedeutende Verstorbene: Immer geht es darum, im unendlichen Strom der Zeit erkennbare und wieder erkennbare Marken zu setzen, Blickpunkte einer - um mit Nietzsche zu sprechen - "Wiederkehr des Gleichen", die allerdings selbst Ausdruck libidinöser Besetzungen sind.

Auch hinter den Gedenktagen und dem zwanghaften Erinnern verbergen sich Wünsche und Ängste. Das mag einiges zur Aufklärung unseres Hangs zu Gedenktagen beitragen. Etwas jährt sich zum 50. oder 150. Mal: das heißt, es kehrt wieder und wird in absehbarer Zeit wiederkehren. Damit geben wir uns selbst in der Zeit eine Ordnung, definieren unser Verhältnis zur Vergangenheit und Zukunft.
Die drei Kränkungen durch Freud
Was also kehrt wieder, wenn sich der Geburtstag von Sigmund Freud zum 150. Mal jährt? Es kehren jene "Kränkungen" wieder, die Freud dem Menschen nach eigenem Bekunden zugefügt hat. Diese Kränkungen erscheinen in drei zentralen Momenten der Freudschen Psychoanalyse: in der Theorie des Unbewussten, in der Lehre von der infantilen Sexualität und in der Annahme eines Todestriebs.

Mit diesen Konzeptionen hat Freud das Selbstverständnis des Menschen in einer Art und Weise provoziert, die uns in eine prinzipiell unbehagliche Situation bringt. Denn diesen Provokationen ist eines gemein: Nichts ist so, wie es uns erscheint.

Alles, was wir denken, fühlen und tun, kann eine andere Bedeutung haben, als wir glauben. Seit Freud stehen wir beständig unter Verdacht. Und jede Geste, jeder Traum, jede Fehlleistung, jeder Wunsch kann uns verraten. Meine These ist also: Sigmund Freud und die Psychoanalyse haben dazu geführt, dass wir prinzipiell in einer Kultur des Unbehagens leben müssen.
Diesseits und ...
Sigmund Freud war natürlich nicht der erste, der erkannte, dass der Mensch nicht "Herr im eigenen Haus" ist. Das Unbewusste bei Freud war allerdings Resultat seiner klinischen Erfahrungen. Seelische Krankheiten, vor allem Neurosen und Phobien, schienen ihm nicht anders erklärbar als durch die Annahme einer inneren und unsichtbaren seelischen Dynamik, die zwar unbewusst, aber höchst wirksam ist.

"Der Kern des Unbewussten besteht aus Triebrepräsentanzen, die ihre Besetzung abführen wollen, also aus Wunschregungen," schrieb Freud. Die Vorgänge im Unbewussten sind dabei allein dem Lustprinzip unterworfen, "ihr Schicksal hängt nur davon ab, wie stark sie sind, und ob sie die Anforderung der Lust-Unlustregulierung erfüllen."

Mit anderen Worten: Alles, was mehr Lust als Unlust verspricht, wird sich aus dem Unbewussten kommend im Denken, Fühlen und Handeln der Menschen durchsetzen.
... jenseits des Lustprinzips
Allerdings: Es gab für Freud auch etwas, das "jenseits des Lustprinzips" lag. In der gleichnamigen Schrift hat sich Freud 1920 noch einmal mit jener Frage beschäftigt, die auch den Ausgangspunkt unserer Überlegungen gebildet hatte: der triebhafte Zwang zur Wiederholung.

Und er kommt in diesem Zusammenhang zu einer bis heute verstörenden Definition des Triebes. Der Trieb ist ein "Drang" zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, eine "Äußerung der Trägheit".

Alle Entwicklung ist Rückentwicklung. Mit dieser Theorie hat sich Freud gegen den modernen Optimismus gestellt, der in der Höher- und Weiterentwicklung von Organismen und Kulturen die entscheidenden Werte des Lebens sehen will.
Mischung von Lebens- und Todestrieb
In das Das Ich und das Es (1923) hat Sigmund Freud daraus seine berüchtigte dualistische Triebtheorie geformt. Zwei Triebe sind im Menschen am Werk, Eros und Thanatos, der Lebens- und der Todestrieb.

Der Todestrieb hat die Aufgabe, das organische Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen, während Eros das Leben erhalten will. Beide Triebe, so Freud, sind eigentlich "im strengsten Sinne" konservativ, da sie die Wiederherstellung eines durch die Entstehung des Lebens gestörten Zustandes anstreben.

Er ging in weiterer Folge von einer Mischung der beiden Triebarten aus, die für die normale Situation charakteristisch ist - ein untrennbares Ineinander von Liebe und Hass, Sexualität und Aggression, Eros und Thanatos. "Nun lehrt uns die klinische Beobachtung, dass der Hass nicht nur der unerwartet regelmäßige Begleiter der Liebe ist (Ambivalenz), nicht nur häufig ihr Vorläufer in menschlichen Beziehungen, sondern auch, dass Hass sich unter mancherlei Verhältnissen in Liebe und Liebe in Hass verwandelt", schreibt Freud. Und wieder spüren wir das Unbehagen.
Gedenktage erinnern und vergessen zugleich
Es ist also der konservative Charakter der Triebe, der uns zu Wiederholungen aller Art zwingt. Das, was wir Zerstörung und Aggressivität nennen, könnte als eine besondere Variante von Wiederholung gedeutet werden: Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes. Wo nichts war, soll wieder nichts sein.

Jedes Ritual erinnert nicht nur an einen Beginn, sondern immer auch an das, was davor war. Sigmund Freud zu gedenken, bedeutet auch, jenen Zustand zu imaginieren, der herrschte, als Freud noch nicht war.

Jedes Erinnern ist so notwendigerweise auch ein Vergessen. Jeder Ahnenkult ist von dieser Ambivalenz gekennzeichnet: Der Wunsch, die Toten sollten noch unter uns weilen, ist gleichbedeutend mit der Angst, sie könnten gar nicht tot sein.

Gedenktage sind deshalb so wichtig, weil sie uns auch versichern, dass die Toten tatsächlich tot sind. Im Falle von Sigmund Freud, der mehr als nur eine unbehagliche Wahrheit für die Menschen bereit hielt, ist dies womöglich sogar eine frohe Botschaft.

[16.6.06]
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->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
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