Host-Info
Konrad Paul Liessmann
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Konrad Paul Liessmann :  Gesellschaft 
 
Die Kunst des Hörens: Über den Umgang mit Musik  
  Das Ohr ist bekanntlich das ungeschützte Organ des Menschen, wir können es nicht verschließen und nur wenig in eine bestimmte Richtung lenken. Dem Schall sind wir ausgeliefert, und der Schall pflanzt sich über weite Strecken fort. Die Augen kann man schließen, und wird der Geruchssinn belästigt, genügt es meistens, ein paar Schritte schneller zu gehen, und man hat den Gestank hinter sich. Anders beim Ohr. Das Ohr ist prinzipiell offen, und dennoch ist auch das Hören, wie jede Sinneswahrnehmung, eine komplexe und selektive Wahrnehmungsleistung.  
Wer nicht hören will, muss fühlen
Wir können etwas überhören, was wir eigentlich hätten hören sollen, wir können etwas aufschnappen, was gar nicht für unser Ohr bestimmt gewesen war, wir können aus dem Klang, aus der Modulation einer Stimme, aus einem Tonfall oder aus einem Chaos von Geräuschen etwas heraushören, was niemand anderer sonst wahrgenommen hat. Und allenthalben gilt: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Über das Ohr lässt sich aber nicht nur das Innerste eines Menschen erreichen, sondern über das Ohr sind die Gefühle selbst unmittelbar aktivierbar. Dort, wo uns allerdings ein Wort in emotionale höchst spannungsreiche Befindlichkeiten versetzen kann, sind diese immer gefiltert durch den reflexiven Charakter des Bewusstseins, der fast jede sprachliche Äußerung begleitet.
In erster Linie hören wir den Signalcharakter mir
Wir hören, wenn wir Worte, Schreie oder Naturlaute hören, sofern uns diese akustischen Ereignisse etwas anzugehen scheinen, immer in erster Linie den Signalcharakter mit. Ein Mensch ruft mir etwas zu, auf das ich reagieren sollte, ein Naturlaut kündet von der Existenz eines Tieres, ein Krachen macht mich auf eine einstürzende Decke aufmerksam.

Und noch in der akzentuiert und melodisch vorgetragenen Rede wird in erster Linie die Vernunft, das den Geist vernehmende Organ, aktiviert: Ich sollte das Gehörte verstehen.

Das Hören von Musik ist ein demgegenüber verschobenes Hören. Es ist ein Hören um des Hörens willen. Wohl gibt es auch Musik, das heißt Tonfolgen, die etwas signalisieren: die Sirene, die eine Gefahr ankündigt, das Läuten eines Mobiltelephons, das einen hastig nach dem Gerät greifen lässt.
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"Musik als kommunikativer Prozess"
Mit der Kommunikationsfunktion von Musik setzt sich das internationale Jeunesse-Symposium "Der schöpferische Augenblick" am Samstag und Sonntag im Wiener Konzerthaus auseinander. Wissenschaftler, Journalisten, Kulturschaffende und Künstler verschiedenster Gebiete - darunter auch Konrad Paul Liessmann - widmen sich dem Thema Musik als kommunikativer Prozess.
->   Nähere Informationen zum Symposion
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Musikhören, der feine Unterschied
Der Unterschied zwischen Musikhören und dem Reagieren auf akustische Signale lässt sich gerade an diesem Gerät trefflich demonstrieren, haben wir es doch geschafft, Anfangs- und Leitmelodien berühmter Musikstücke als Signalgeber zu verwenden.

Das wäre ein schlechter Telefonierer, der verzückt den ersten Takten von Wagners Walkürenritt, die aus seinem Mobiltelephon piepsen, lauschte, sich daran nicht satt hören könnte und darum immer wieder vergäße abzuheben.
Die Kunst des Hörens
Wo uns allerdings keine Gelegenheit gegeben wird, anders auf Gehörtes zu reagieren als mit dem Gehör, erst dort beginnt die Kunst des Hörens.

Musik, so könnte man zugespitzt formulieren, hat sich im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte zu einem Medium entwickelt, das uns zwingen möchte, nur noch mit Hören auf das Gehörte zu reagieren - nicht mit dem Körper, nicht durch eine Zuruf, nicht durch ein Weglaufen. Im Grunde mögen wir das nicht.
Klassische Konzerte - Zwangsveranstaltungen?
Die von Kritikern der bürgerlichen Kultur immer wieder stereotyp vorgebrachte Anklage, dass klassische Konzerte Zwangsveranstaltungen seien, in denen die Menschen gezwungen werden, wie gefesselt ruhig zu sitzen, während sie etwas hören, das sie mitunter in eine intensive innere Bewegung, die sich auch nach außen Ausdruck verschaffen will, versetzt, hat ein wahres Moment an sich.

In diesem spricht sich aber auch ein Misstrauen dem Ohr gegenüber aus - so, als wäre es besser, nicht nur zu hören, sondern daneben wenigstens den durch das Hören provozierten Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Der entscheidende Punkt: Musik und Gefühl?
Musik und Gefühl: Ist dies nicht der alles entscheidende Punkt? Man muss nichts von Musik verstehen, um Musik auf sich wirken zu lassen. Musik muss dem Herzen verständlich sein.

Das Programm einer für die bürgerliche Ästhetik maßgebliche Kunst des Hörens ist in einer älteren Ästhetik formuliert. Johann Georg Sulzer ging in seiner 1771/74 erschienen "Allgemeinen Theorie der Schönen Künste" von einem evidenten Zusammenhang zwischen Gefühl und Musik ausgehen.
->   Mehr zu Georg Sulzer
Mobilisierung und Schaffung von Empfindungen
Die Musik rührt direkt an das Herz, sie mobilisiert, schafft erst jene Empfindungen, jene Emotionalität, die den Menschen letztlich auch befähigt, sich in einem eigentümlichen Weise seiner selbst inne zu werden.

Für das Hören von Musik bedeutete diese anthropologische Disposition nach Sulzer übrigens, dass niemand vom Genuss des musikalischen Kunstwerkes ausgeschlossen werden kann.

Die intuitive Perzeption entscheidet über die Qualität des musikalischen Kunstwerks und über die Palette der Empfindungen, die durch die Musik ausgelöst werden. Mehr als ein empfindsames Gemüt, das sich durch Musik in Stimmungen versetzen lassen kann, ist dazu nicht vonnöten.
"Der Geist, der nicht weiß, dass er philosophiert"
Ein knappes Jahrhundert später ist der Anspruch ein wenig weiter gesteckt. In "Die Welt als Wille und Vorstellung" zitiert Arthur Schopenhauer zustimmend einen berühmten Satz von Leibniz, nach dem die Musik definiert ist als "eine unbewusste Übung in der Arithmetik, bei der der Geist nicht weiß, dass er zählt¿, um diesen Satz dann wenig später, wie er es selbst nennt, ein wenig zu parodieren: "Die Musik ist eine unbewusste Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, dass er philosophiert."
->   Die Welt als Wille und Vorstellung (Zusammenfassung)
Entscheidendes Dilemma des Hörens
Das Hören von Musik wird damit nicht auf die passive Rezeption von Tönen und die dadurch ausgelösten Gefühle beschränkt, sondern es wird zu einem Exerzitium, so streng wie die Metaphysik, aber unterhalb der Reflexionsschwelle.

Damit ist aber auch das entscheidende Dilemma des Hörens von Musik benannt: Was imstande ist, die stärksten Empfindungen auszulösen, gehorcht selbst der strengsten Rationalität. Wer Musik hört, ist Rationalist, ohne rational zu sein.
Was hören wir, wenn wir hören?
Was hören wir, wenn wir hören? Hören wir überhaupt noch etwas in einer Situation, in der Töne sich unserem Inneren anverwandeln und einen Komplex von Empfindungen in uns auslösen?

Ist es nicht so, dass erst dann von einer Kunst des Hören gesprochen werden kann, wenn die rationale Konstruktion von Musik, ihr Aufbau und ihr Verlauf, mitgehört werden kann? Und gibt es nicht Musik, wie etwa die mit der Zwölftontechnik komponierte, deren ästhetischer Wert überhaupt erst erkannt werden kann, wenn man sich auf ihre Konstruktion einlässt, weil das akustische Erlebnis selbst nur noch rudimentäre Empfindungen imstande ist auszulösen?

Oder verhält sich gar umgekehrt? Bleibt Musik, die nicht mehr imstande ist, uns emotional zu erreichen, nicht auf eine eigentümliche Art und Weise eine kalte Musik?
Rational-nachvollziehendes Hören, die eigentliche Kunst ?
Es gab die These, dass sich überhaupt erst im rational-nachvollziehenden Hören solch einer kalten Musik die eigentliche Kunst des Hören bewährt. Sie stammte von dem Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno. In einer vor Jahrzehnten vieldiskutierten Soziologie der Musik hatte Adorno den Versuch unternommen, die Liebhaber von Musik nach ihrem Hörvermögen zu klassifizieren.
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"Typologie des Hörens" nach Adorno
An erster Stelle ist der "Experte" er vermag "adäquat" zu hören. Gefolgt vom "guten Zuhörer", hört zwar übers musikalisch Einzelne hinaus; scheitert aber an den technischen und strukturellen Implikationen. An dritter Stelle der "Bildungskonsument", hört viel und ist gut informiert, Musik respektiert er als ein Kulturgut, Attitüde reicht vom Gefühl ernsthafter Verpflichtung bis zum vulgären Snobismus.

Ohne Bildungsanspruch aber mit viel Sentiment folgt dann der "emotionale Hörer". Berufung auf Gefühlswerte der Musik, leicht zum Weinen zu bringen. Am unteren Ende der Skala rangiert dann der "Ressentiment-Hörer". Er verachtet das offizielle Musikleben als ausgelaugt und flüchtet in Epochen, die er davon verschont wähnt. Zum Schluss schließlich der quantitativ erheblichste und qualitativ abscheulichste Typ, der Musik nur mehr als "Unterhaltung" konsumiert.
->   Theodor W. Adorno: Biographische Daten und Bibliographie
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Nicht in jeder Situation hören wir Musik als Musik
Wie immer man heute diese Typologie bewerten mag: Sie hat einerseits den Vorzug der Deutlichkeit. Und sie vergisst andererseits dass der Modus des Hörens selbst von der Situation abhängen kann, in der wir hören. Denn nicht in jeder Situation hören wir also Musik als Musik.

Was hören wir, wenn wir Musik zu Hause hören, beim Frühstück, auf der Straße, im Supermarkt, im Auto, im Kino, in der Diskothek, im Konzerthaus? Ist eine Symphonie, die man nebenbei hört, beim Autofahren oder Essen, in letzter Konsequenz nicht ein anderes Werk als die gleiche Symphonie, die konzentriert in einem Konzertsaal gehört wird?
Phänomenologie des Zuhörens
In jungen Jahren hatte der Philosoph Günther Anders eine bislang unpublizierte Musikphilosophie entworfen, die, ausgehend von einer Phänomenologie des Zuhörens sich mit der Situation des Musikhörens systematisch beschäftigt hat.
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Verhinderte Habilitation
Mit den Philosophischen Untersuchungen zu musikalischen Situationen hatte sich Anders in Frankfurt habilitieren wollen, war damit allerdings am Einspruch des jungen, aber schon einflussreichen Adorno gescheitert.
->   Günther Anders Forum
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Welche Situation schafft Präsenz von Musik?
Anders versuchte eine Theorie der Musik zu entwerfen, die weder von der objektivierten Formensprache der Musik noch von ihrer subjektiven Emotionalität ausgeht, sondern an der musikalischen "Situation" phänomenologisch ansetzen wollte.

In welcher Situation, in welcher Lage befindet sich jemand, der sich einer Musik aussetzt? Was heißt es, Musik wahrzunehmen, zu hören, aufzunehmen? Welche Situation schafft die Präsenz von Musik für einen Hörenden?
Nur paradoxe Antworten möglich
Diese Fragen lassen sich nur paradox beantworten, Denn das Charakteristische der Musik ist nach Anders, dass sie selbst gerade nicht situativ ist, in keine strengen raum-zeitlichen Koordinaten eingebunden werden kann. "Musik ist notwendig stets bestimmte Unbestimmtheit. Zum Begriff der hier gedeutete Musik gehört ihr jeweiliges Anderssein, ihr unendliches Weitergehen, die 'unendliche Melodie'."

Die Analyse mündet bei Anders in eine "Phänomenologie des Tons", deren Kernstück dem rezeptiven Moment der musikalischen Situation gewidmet ist: dem "Lauschen". Mit dieser Kategorie hat Anders ein Phänomen benannt, das, im Gegensatz zum gewöhnlichen Hören, das Moment der Zeitlichkeit in der Musik - ihr "Erklingen" - in die Rezeptionsform selbst integriert.
Gerichtete Aufmerksamkeit wider passive Konfrontation
Im Lauschen ist eine gerichtete Aufmerksamkeit des Hörenden gegeben, er wird nicht nur passiv mit einer Folge von Tönen, Klängen, Akkorden konfrontiert, sondern richtet sein Ohr erwartungsvoll und mögliche musikalische Verlaufsformen antizipierend der Musik entgegen: "Das Lauschen, das nicht auf den daseienden Ton geht, sondern dem Ertönen entgegenlauscht, bezieht sich ausdrücklich auf die Zeit."

Solches Lauschen ist dann für Anders auch "spezifische Möglichkeit des Akustischen", die ihr eigentliches Medium in jenem Nichts hat, "in das das Lauschen hineinlauscht": der Stille; musikalisch gesprochen, der Pause. Vielleicht besteht die Kunst des Hörens in eben jenem Lauschen, das man die Haltung der intuitiv-begründeten musikalischen Erwartung nennen könnte.
Voraussetzung musikalischer Wahrnehmung: Die Stille
Was Günther Anders als Voraussetzung der Möglichkeit des Lauschens benannt hatte, ist zu einer Voraussetzung musikalischer Wahrnehmung schlechthin geworden: die Stille. Die Kunst des Hörens heute beginnt in einer Situation, in der man tatsächlich Hören kann, weil es nichts zu hören gibt. Der Lärm dieser Welt macht es nicht gerade einfach, sich dieser Kunst wie reflektiert oder unmittelbar auch immer zu befleißigen.
->   Beiträge von Konrad Paul Liessmann in science.ORF.at
 
 
 
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