Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Erinnerungspolitik (1): Zur Entsorgung Julius Wagner-Jaureggs  
  Die Aufmerksamkeit, die seit einigen Jahren den "dunklen Flecken" in Österreichs glorreicher Vergangenheit geschenkt wird, ist erfreulich. Eine "aktive Erinnerungspolitik" gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Vor- und Nachgeschichte, getragen vom Willen der politischen Institutionen, durch Gedächtnispolitik Vertrauen bei den Opfern zurückzugewinnen und nicht umkehrbare demokratische Veränderungen zu demonstrieren, darf keine ambivalenten Haltungen zeigen.  
Und so ist es nur recht und billig, Zelebritäten und Heroen der eigenen Geschichte, wie den Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) auf seine Tauglichkeit zu prüfen, Österreich (im weitesten Sinne) international zu repräsentieren. Nun steht, nachdem biographische Nachforschungen Wagner-Jaureggs Nähe zur NSDAP und seine programmatischen Aussagen zur Zwangssterilisierung von "Geisteskranken" und "Menschen mit verbrecherischen Anlagen" neuerlich dokumentieren, der Entzug seines Ehrengrabes am Wiener Zentralfriedhof zur Diskussion.
->   Julius Wagner-Jauregg war NS-Rassenhygieniker (13.1.04)
Aktives Vergessen des Kontextes
So erfreulich, wie gesagt, die Besorgnis der öffentlichen Institutionen um die virulenten NS-Relikte ist, die man zu beseitigen vergessen oder übersehen hatte, so wichtig ist aber auch die Form von deren Entsorgung. Am Beginn dieses Prozesses steht für gewöhnlich die verstehende Reflexion der Vergangenheit, an ihrem Ende die demonstrative Auflösung.

In der hierzulande gebotenen Eile kann es aber auch passieren - und es passiert immer häufiger -, dass ein theatralisiertes Ereignis der Reflexion zuvorkommt und diese dann unterbleibt. Im gegebenen Falle heißt dies: Unterschlagung des gesellschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes sowie politischer Ereignisse, um letztlich ein Monster namens Wagner-Jauregg zu kreieren, von dem moralisch sich zu distanzieren leicht fällt.
Konsens seiner Zeit
Zwei Punkte dazu: Wenn Wagner-Jauregg für die Sterilisierung der oben genannten Personengruppen plädierte, dann tat er dies leider in einem wohlbewahrten Konsens der Wissenschaftler seiner Zeit, ein Konsens, der, wie Doris Byer vor einigen Jahren bereits ausführlich dargestellt hat, auch noch Sozialdemokraten wie den Mediziner und Wiener Gesundheitsstadtrat Julius Tandler umschloss.
Ähnliche "Bevölkerungspolitik" in vielen Ländern
Und mehr noch: Der Sterilisierungswahn war Bestandteil modernistisch-nationalistischer "Bevölkerungspolitik", in der die staatliche Kontrolle der Fortpflanzung zum Angelpunkt der ökonomischen und politischen Rationalisierung der Gesellschaft aufstieg. Es war beileibe kein deutsch-österreichisches Phänomen, sondern ebenso ein amerikanisches oder ein australisches, und die Nationalsozialisten stützten sich auf die (seit 1907 bestehenden) amerikanischen Sterilisierungsgesetze, denen in den 20er und 30er Jahren geschätzte 60- bis 100.000 Menschen unterworfen wurden.

(Und in Mexiko klagten im Jahre 2000 einige hundert indigene Frauen die Behörden an, an ihnen Sterilisierungen ohne ihr Wissen und Einverständnis durchgeführt zu haben.)
Keine Rehabilitation, sondern Reflexion ...
1922 veröffentlichten der bedeutende deutsche Strafrechtler K.L. Binding und der angesehene Psychiater A. Hoche ihre Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" - beide waren keine Sympathisanten, sondern sogar ausgesprochene Gegner Hitlers.

Voraussetzungen wie diese sollen nicht Wagner-Jauregg rehabilitieren, sondern deutlich machen, dass das "System Wissenschaft" zur Debatte steht, dass die Inhumanität - von den Nationalsozialisten ins Extrem gesteigert und praktisch umgesetzt - sich in den Strukturen rationalistischer Denkweisen festgesetzt hat.
... von inhumaner Wissensproduktion
Diese Inhumanität der Wissensproduktion lässt sich von den Errungenschaften, die das Leben einfacher und angenehmer gemacht haben, nicht trennen. Leider. Aber gerade deshalb braucht es die Reflexion, wo sich die totalitären Übergriffe der Expertengemeinschaften auf das Leben entwickelt haben, unter welchen politischen Konstellation es sich entfaltet hat, und wie es das Vorstellungsvermögen weiter Teile der Bevölkerung normiert hat.

(Um den zuvor angekündigten zweiten Punkt nachzutragen: Die schamlosen Experimente mit Soldaten, die an Kriegsneurosen litten und von Wagner-Jauregg mit Elektro-Schocks "behandelt" worden sind, wurden in einem legendären Fakultätsverfahren von Sigmund Freud quasi entschuldigt. Diesen, gleichfalls vor Jahren exzellent durch K.R. Eißler dokumentierten Fall heute ohne diesen Kontext zu präsentieren, öffnet natürlich einer dämonisierenden Lesart Tür und Tor.)
Inadäquate Form des Erinnerns
Kann es letzten Endes um anderes gehen, als aktuelle Bedrohungen durch die "Biopolitik" vor dem geschichtlichen Hintergrund klarer zu sehen? Eine nachträgliche Exkommunizierung, die Überhöhung und postwendend die Ent-Sichtbarmachung von Personen wie Wagner-Jauregg ohne Weiterungen hinsichtlich der Strukturen langer Dauer, trägt nicht. (Dass die Entzauberung solcher und anderer "großer Söhne und Töchter" unbedingt zu geschehen hat, wird dadurch nicht tangiert.)

Sie schafft - als theatralischer Akt - bloß eine falsche Gewissheit über unseren aktuellen moralischen Status.
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In den kommenden Tagen wird Siegfried Mattl zwei weitere Beiträge zum Thema "Erinnerungspolitik" in science.ORF.at veröffentlichen - zum "Fall" des Fußballers Matthias Sindelar und zum italienischen Politiker Gianfranco Fini.
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->   Alle Beiträge von Siegfried Mattl in science.ORF.at
 
 
 
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