Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Erinnerungspolitik (2): Zur Entsorgung Matthias Sindelars  
  Seit Peter Menasse im "Falter" und in "NU" Matthias Sindelar, Fußball-Idol der 30er Jahre und proletarisch-intellektuelle Legende als Ariseur entzaubert hat, steht auch die Figur jenes Mannes, der den Deutschen in einem Spiel von höchster politischer Brisanz nach dem Anschluss ("Versöhnungsspiel" Reichsdeutsche Auswahl - "Ostmark" am 3. April 1938) ein entscheidendes Tor machte, zur Diskussion.  
Der "Kurier" ortete jedenfalls Handlungsbedarf bei der Stadt Wien, die sich das Weiterbestehen des Ehrengrabs des Kickers ernstlich überlegen müsse.
->   Peter Menasse: Parteigenosse Matthias Sindelar ("NU", Dezember 2003)
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Im Rahmen einer Serie zum Thema "Erinnerungspolitik" hat Siegfried Mattl in science.ORF.at bereits den Beitrag "Zur Entsorgung Julius Wagner-Jaureggs" veröffentlicht - in den nächsten Tagen folgt ein Beitrag zum italienischen Politiker Gianfranco Fini.
->   "Zur Entsorgung Julius Wagner-Jaureggs" (7.2.04)
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Beim Mythos Sindelar ...
Auch wenn es jetzt so aussieht: Die Übernahme des arisierten Kaffeehauses der Familie Drill in der Dampfgasse durch Matthias Sindelar ist keine Entdeckung des Jahres 2003. Wer wollte, konnte es spätestens 1997 in Horak/Maderthaners großem Wiener Fußballbuch ("Mehr als ein Spiel", Löcker-Verlag) lesen.

Bestürzend allerdings ist die aktuelle Darstellung, wonach Sindelar Leopold Drill, zu dessen Stammgästen er zählte, mit Terrormethoden zum Verkauf gezwungen hat.

Das zumindest legt Peter Menasses Bericht nahe, auch wenn es nicht direkt so formuliert ist. Die Niederträchtigkeit "durchschnittlicher" nicht-jüdischer Österreicher, die sich im Zuge der nationalsozialistischen Zwangsenteignung zeigte, macht dies auch plausibel.
... wäre Präzision vonnöten
Im Falle Sindelars wird es allerdings nochmals komplizierter: Sindelar war nicht irgendwer, sondern - nicht nur durch die Hymne, die Friedrich Torberg auf ihn gedichtet hat - eine Hoffnungsgestalt für einige der vertriebenen Wiener Juden, jedenfalls für die "Austrianer":

Sindelar, der Tscheche, der einfache anständige Mensch, der (wie die Erzählungen gingen) sich dem Antisemitismus im Umgang mit seinen Bekannten und Klubfreunden nicht gebeugt habe ...

Wenn man dieses Bild zerstören muss, dann fordert dies schon aus diesem Grund besondere Präzision. Und da ist es bedauerlich, dass in Peter Menasses Artikeln nicht ganz stringente Argumentationsketten gebaut werden.
Einige Unklarheiten
Die Nationalsozialisten entzogen Leopold Drill schon am 1. Mai 1938 das Kaffeehaus und unterstellten es vorübergehend einem kommissarischen Leiter, während die Übernahme durch Sindelar erst am 3. August 1938 zwischen ihm und Leopold Drill vereinbart wurde. Sindelar wurde auch nicht Besitzer des Cafe Annahof, sondern erhielt eine "Vorgenehmigung" zur Führung des Lokals "auf eigene Rechnung und Gefahr".

Horak/Maderthaner schreiben vielleicht etwas unklar, Sindelar habe die "Gunst der Stunde" genutzt, aber noch unklarer bleiben die Wochen zwischen Mai und August, und die Ausräumung des Zweifels daran, dass Sindelar so viel Zugang zur NS-Macht gehabt hat, physische Bedrohungen und Erpressungsmethoden gegenüber Leopold Drill anzuwenden, wie Menasses Essay suggeriert.
Verwandte klar anti-nationalsozialistisch
Solche Zweifel beruhen nicht zuletzt auf dem Umstand, dass Sindelars Mutter, die das Kaffeehaus nach dem Freitod/Unfall des Fußballers 1939 übernehmen wollte, als notorische Anti-Nationalsozialistin und nationalistische Tschechin abgelehnt worden ist.

Schließlich finden sich in den "Arisierungsakten" auch Denunziationsbriefe gegen Sindelars Schwager, der sich geweigert hätte, das Lokal nach den politischen Auflagen der Nationalsozialisten zu führen.
Gegen Sindelar oder gegen Torberg?
Ist es nun eine Abrechnung mit Sindelar, oder mit Torberg? Der Schluss von Peter Menasses Artikel, in dem er Torbergs Poem über das "Kind aus Favoriten" ins Grauen wendet, spricht für letzteres.

Aber solche feineren Unterschiede in der Angelegenheit Sindelar sind in der aktuellen öffentlichen Geschichtskultur nicht zu führen. Auch kluge und ambitionierte Experten meinen, sie müssten sich in eigener Sache gegen den Vorwurf wehren, als Fußballsoziologen blind gegenüber der NS-Zeit zu sein (vgl. Standard, 10./11.1.2004).

So passiert es, dass Matthias Sindelar (von wegen Ehrengrab) in einem Atemzug mit dem Kampfpiloten und Heroen der alten und neuen Rechtsextremen Walter Nowotny genannt wird.
->   Das Torberg-Gedicht plus ein Kapitel aus "Mehr als ein Spiel" (Uni Wien)
->   Alle Beiträge von Siegfried Mattl in science.ORF.at
 
 
 
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