Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Unheimliche Körper  
  Mit 30. Oktober wurde Mike Kelleys Schau "Das Unheimliche" im Wiener Museum Moderner Kunst (Mumok) geschlossen. Der britische Künstler arrangierte bizarre Wachs- und Gummifiguren, animalisch wie menschlich, mit popularkulturellen Artefakten unterschiedlicher Materialien sowie mediale short-cuts zu einem Kabinett des Merkwürdigen.  
Eine faktische Demontage der Grenzziehungen zwischen "high" und "low" an einem musealen Ort, eine Subversion des systematisch-wissenschaftlichen Ordnungsfanatismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ein Plädoyer für - kokett in den Erläuterungen erklärt - die Fertigkeiten der "lower classes", mit Kitsch&Kunst auf spielerische Art und Weise umzugehen.
->   "Das Unheimliche" (Mumok)
Präuschers' Panoptikum aus dem Prater
Einen unübersehbaren Schwerpunkt dieser Objektwelt (im Unterschied zur ersten Konzeption des Jahres 1993) haben medizinische und anthropologische Artefakte aus dem Wiener anatomisch-pathologischen Institut und aus den Resten des 1944/45 zerstörten Präuscher'schen Panoptikums im Prater gebildet.

Kein Zufall, wie die offizielle Betextung der Ausstellung meint, denn Kelley habe in Wien eine anhaltende Atmosphäre morbiden Lebensgefühls, reich an Skurrilitäten vorgefunden ...
Unschuld seiner "Wunderkammer"?
Das mag so sein. Und Kelleys kommentarloser Angriff auf die schönen Künste&die Wissenschaft überzeugt (auch wenn man sich zumindest stellenweise Aufschluss auf die Auswahlprinzipien und die Assoziationswelt des Künstlers wünschte.)

Aber: Es bleibt doch ein Rest an Zweifel hinsichtlich der Unschuld der "Wunderkammer", ein Rest, der sich aus der Auseinandersetzung mit Präuschers Panoptikum und "Menschenmuseum", wie es kurzfristig auch hieß, ergibt.
Höchster technischer Stand ...
Präuscher erweist sich, bei näherer Betrachtung, als ein höchst ambivalentes Phänomen. Einerseits bewegte er sich mit seinen ausgestellten Wachsmodellen, Korrosions-, und Spiritusobjekten von menschlichen Organen und Gliedmaßen, von Krankheitssymptomen und Zeugungsorganen auf höchstem technischen Stand, und er war nicht minder bemüht, die gerade dominanten wissenschaftlichen Lehrmeinungen über die menschliche Entwicklung seinem Publikum nahe zu bringen.
... und dilettierende Kommentare
Andererseits - und damit wären wir wieder bei Kelley - unterwanderten seine dilettierenden Kommentare und Objektbeschriftungen wie seine eigenwilligen, dem Spektakel verpflichteten Aufstellungen die strengeren Codes etwa der anthropologisch-ethnografischen Abteilung im Naturhistorischen Museum um 1900.

Dennoch: Es handelte sich um eine Schwelle, eine Schwelle zwischen dem kategorischen Imperativ der rassistisch geprägten Sozialhygiene seiner Zeit und der Schaulust des Publikums, an der kolonialistische und sexistische Stereotypen popularisiert wurden.
Spektakel um den "modernen" Körper
Woher aber stammte die Faszination der uns heute so skurril anmutenden Objekte? Ist es, wie Freud meinte, die Wiederbegegnung mit dem eigenen Verdrängten? Oder können wir soziale und kulturelle Elemente mit betrachten?

Im 19. Jahrhundert pilgerten zehntausende Pariser täglich in die städtische Leichenhalle, um sich die dort ausgestellten und kunstvoll inszenierten unbekannten Toten der vorigen Nacht zu begaffen - eines der vielen öffentlichen Spektakel rund um die "modernen" Körper (wie Wachsfigurenkabinette, Völkerschauen und Anatomie-Museen), d.h. um die aus Riten, Respektsbeziehungen und Verpflichtungen entbundenen "biologischen" Körper.
Gemeinsames unserer Gesellschaft: Körper in Gefahr
Man kann darin Folgen eines Entfremdungsprozesses sehen, aber auch Effekte eines gesellschaftlichen Defizits: In der Gesellschaft der radikalen Individualisierung lässt sich das Gemeinsame und Verbindende am ehesten in den körperlichen Gefahren ausmachen, in den Krankheiten, den Deformationen und Anomalien, den Unfällen und Katastrophen.

Kelley lässt uns an dieser negativen Epiphanie des Körpers mit Spaß teilhaben - weil die Objekte, die ins Auge stechen, durch die Spuren der Geschichte und ihr Material distanziert werden können.

Aber es lohnt sich, unsere aktuellen Medien und deren Körperbilder, von der kosmetischen Chirurgie bis zu den Versprechungen der Gentechnik, dazu analog zu betrachten.

[2.11.04]
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Literaturhinweis
Die "Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit" widmet sich in ihrer aktuellen Ausgabe (2/04) dem Thema "Körper-Kontroversen". Siegfried Mattl schrieb darin den Beitrag "Körperspektakel. Ein anatomisch-pathologisches und ethnologisches Museum im fin-de-siecle Wien".
->   Mehr über die Zeitschrift (Studienverlag)
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->   Alle Beiträge von Siegfried Mattl in science.ORF.at
 
 
 
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