Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Gedenkjahr 2005: Beglaubigte Geschichte  
  Die öffentliche Erinnerungskultur im "Gedenk-/Gedankenjahr" 2005 setzt stark auf das Prinzip "Prominente Augenzeugen berichten". Wird die Geschichte dadurch "echter", oder bloß kulinarischer?  
Von den Experten zu den Zeugen
Angesichts des Overkills von Geschichte im "Gedankenjahr" muss man sich fragen, ob nicht völlige Enthaltsamkeit gegenüber den rauf- und runtergespielten Chroniken von 1945 bis 1994 angezeigt ist. Oder ob nicht die Form der öffentlichen Erinnerungsinszenierung das eigentlich diskussionswürdige gegenüber wechselnden Interpretationen der Vergangenheit ist.

Eines jedenfalls lässt sich jetzt schon beobachten: wir sind von der (langweiligen?) Expertenerläuterung definitiv in die Ära der Historie als persönliche Zeugenschaft gerutscht.
Oral history auf Abwegen
Oral history im weitesten und popularen Verständnis dominiert. Insbesondere, aber nicht nur, trifft dies die Medienformate zum "Gedankenjahr". Das ist zum einen erfreulich für einen Forschungsansatz, der es nie ganz geschafft hat, sich zu etablieren.

Andererseits aber war Oral History für anderes als das gedacht, was wir jetzt vor allem hören und sehen, nämlich die Nacherzählung großer politischer Ereignisse aus der Perspektive von Repräsentanten des politischen und des öffentlichen Lebens.
Artikulation der "kleinen Leute"
Ohne die Sache zu sehr in die Länge zu ziehen: Oral History verstand sich als Möglichkeit, den so genannten "kleinen Leuten" zur Artikulation zu verhelfen. Es ging (und geht) um Lebensgeschichten, die kein Archiv gefunden haben, die aber auch keine endgültigen und aufwertenden Ziele vorweisen können.
Gegen Überformung der Erinnerungen
An einem vor allem hatte und hat sich die Oral History immer abzuarbeiten: An der Vereinnahmung der individuellen Erinnerung durch die vorgeformten nationalgeschichtlichen Narrative und den vermeintlichen Zwang, deren Bedeutungssetzungen zu folgen.

Mit einer Entlehnung aus der Psychologie kann man dafür auch den Begriff der "Nachträglichkeit" wählen, d.h. der Überformung des Erinnerungsmaterials durch später hinzugekommene Erklärungsmuster.
Nun wird der Geschichtskanon "authentisch"
Was aber ist der Effekt, wenn die Palette der methodischen Einschränkungen und Kontrollmechanismen wenig beachtet wird und Prominenz im Interview kanonisierte "Ereignisse" berichtet?

Nicht weniger, nicht mehr als die Aufladung der bereits autorisierten Geschichtsbilder mit "Authentizität". Für den Zweifel, der dem Status der Zeugenschaft im Grunde anhaftet und diese so interessant macht, für eine Vervielfachung der Perspektiven und die Korrektur der "einen" Geschichte bleibt da kein Bezirk reserviert.

[9.3.05]
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