Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Staatsvertrag.at: Die Ambivalenz von Zeitzeugen  
  Was ist ein Staatsvertrag? Hält man sich die Ergebnisse des vorwöchigen Gipfelgesprächs zwischen Regierung, Slowenenvertretern und - ja, wie kommen die da eigentlich dazu? - Kärntner Heimatverbänden vor Augen, kommt man zum Schluss: sprichwörtlich geduldiges Papier.  
Der Artikel 7 über die Rechte der slowenischen und kroatischen Bevölkerung in Österreich ist insbesondere hinsichtlich der topografischen Bezeichnungen (Ortstafeln) nach wie vor nicht erfüllt, und dass Organisationen, die diese Rechte einschränken wollen, verboten werden sollen, wäre in die Verhandlungen einzubeziehen.

Doch nicht darum soll es heute gehen, sondern um ein anderes, weiteres und interessantes Produkt des "Gedankenjahres" 2005. Das Technische Museum präsentiert aus diesem Anlass die virtuelle multimediale Ausstellung www.staatsvertrag.at.
->   www.staatsvertrag.at
Kaleidoskop von Jandl bis Jagschitz
Sie verknüpft akustische, visuelle und textliche Dokumente aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 zu einem breiten Kaleidoskop, während Gerhard Jagschitz in einem Videointerview die politische Geschichte hin zum österreichischen Staatsvertrag erläutert.

Das Ding ist faszinierend und beeindruckend. Von Ernst Jandl kann man da das "Kriegskrüppel"-Gedicht aus 1955 (gelesen von ihm selbst 1982) hören, von Ernst Fischer ein Plädoyer im Parlament am 30. Oktober 1953 für die Neutralität zwischen USA und UdSSR, Erinnerungen von Zeitzeugen an die alliierten Besatzungsgruppen, Fotos der "Trümmerfrauen" des Jahres 1945, und und und ...

Die Vergangenheit ist uns in einer Fülle zur Hand, die nichts an Wünschen offen lässt, außer dem Wunsch nach einem Navigator.
Was ist das rein Faktische, die pure "Realität"?
Nochmals: Anerkennung für die Gestaltung, Respekt für die wahlweise angebotenen Vertiefungen der Information, Dank für die seltenen Zeitdokumente. Und dennoch. Was, so fragt man sich, ist "Geschichte" im Internet?

Sind wir die Bastler unserer privaten Geschichtsbilder, wenn wir uns nach raschen Vorlieben für Themen, Bilder, Töne orientieren und Verknüpfungen zwischen Alltag, Kunst, Wissenschaft, Diplomatie, Politik ff. herstellen? Und kommen wir mit diesen Verknüpfungen über ein immer wieder spielerisch herstellbares variables Monument hinaus?

Vor allem aber: Was nützt uns der erworbene höhere Freiheitsgrad, wenn wir im Detail auf scheinbar "Faktisches", Unabweisbares, die pure "Realität" zurückgeführt werden?
Quellenkritik und Materialgeschichte nötig
Anders gesagt: Bräuchten wir nicht zuallererst so etwas wie eine quellenkritische Ermächtigung, Einführungen in die Materialgeschichte der Dokumente selbst, in ganz simplem Sinne, so in der Art von naiven Fragen: Wer kommt im Radio zu Wort, wer entscheidet über Schnitte für die Wochenschauen, wer fotografiert ... Und weiter: Wie inszenieren sich Politiker, vor dem TV-Zeitalter, angesichts von Mikrophon und Kamera?

Welche Art von Interview erleben wir, wenn wir Zeitzeugen sprechen sehen und hören? Wie sollen wir mit der Emphase umgehen, die aus den zeitgenössischen Reportagen etwa eines Heinz Fischer-Karwin über den 15. Mai 1955 hervortreten und uns heute eher an ein Theaterstück gemahnen, denn an Journalismus.

(Ich sage: Wir konfrontieren uns hier mit einem Medienereignis, das den Tag der Proklamation erst zu einem "Gedächtnisort" gemacht hat.)
Staatsvertrag - das leere Zentrum
Und nochmals: Warum passieren wir eine Ordnung, die einerseits dem herkömmlichen Seitenkonzept von Tageszeitungen folgt (Innenpolitik, Sport, Kultur u.a.), andererseits Topoi der Historiografie aufgreift ("Last der Vergangenheit")? Letztlich: Wäre alles anders, wenn es nicht programmatisch um den Staatsvertrag ginge?

Aber damit sind wir auch schon wieder bei unserem Beginn: Der österreichische Staatsvertrag ist so etwas wie das leere Zentrum. Der Weg dorthin, doch, der wird rekonstruiert.
Nostalgie statt Reality-Check
Aber was es mit so einem Vertrag auf sich hat, ob er gelebt werden kann, wie er zu gebrauchen ist, ob er "offen" für fortschreitende Um- und Reinterpretationen ist, ob er normierende Kraft hat oder in seiner Ausprägung von konkreten und wechselnden Machtverhältnissen abhängt, das bleibt uns schon als Fragestellung verborgen.

So wie uns (heute) verborgen bleibt, dass der slowenischen Minderheit in Kärnten seit 50 Jahren die Rechte aus dem Staatsvertrag verwehrt worden sind.

Aber, hören wir lieber Fischer-Karwin, wenn er uns vom Marmor, vom Gold und den Allegorien berichtet, die den Ort der Staatsvertragsverkündung schmücken und das Belvedere zu einem Tempel des Österreichertums werden lassen.

[11.5.05]
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Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Online-Ausstellung: Ungehörtes zum Staatsvertrag (6.4.05)
 
 
 
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