Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
'Schwamm drüber' läuft nicht
Warum eine Amnestie für Hitler & Österreich kaum zu bekommen sein wird.
 
  Ein Essay von Rudolf Burger in der "Europäischen Rundschau" genügt, um eine rauschende Kontroverse über die Angemessenheit der Gedächtnispolitik in Österreich zu entfachen. Trotz Historikerkommission, trotz ORF-Serienprogramme zur Geschichte, trotz Plänen für ein "Haus der Geschichte" - oder sollte man sagen: gerade deretwegen?  
3. Reich im Zentrum der Gedächtnispolitik
Sicher ist: das "3. Reich" und die Shoa sind, nachdem die 60er und 70er Jahre völlig im Zeichen des Zerfalls der Habsburger-Monarchie, des Bürgerkriegs in Österreich und des Austrofaschismus gestanden waren, zum beinahe alleinigen Inhalt dieser Auseinandersetzungen geworden.

Dies ist keine hiesige Sonderstellung. Die Erinnerungen an den Nationalsozialismus haben sich in den letzten drei Jahrzehnten weltweit intensiviert - was auf den ersten Blick ein Paradox darzustellen scheint, sind wir es doch gewohnt, dass die Erinnerungen mit der Zeit "verblassen".
Trend zur Selbst-Viktimisierung
Und sie haben aus höchst divergenten Anfängen eine international zunehmend homogene Form angenommen. Hitlers Eroberungszüge und die Ermordung des europäischen Judentums sind weltweit zum ultimativen Bild des Staatsverbrechens geworden, das sich (auf welchem Niveau immer es passiert) deshalb keiner Legitimität mehr bedienen kann.

Die Obsession, mit der die Erinnerung an den Nationalsozialismus international zirkuliert, entspricht einem Wandel in der globalen Kultur, den Pamela Ballinger als universalen Trend zur Selbst-Viktimisierung analysiert hat. Weltweite Anerkennung und Respekt finden heute, 400 Jahre nach der Ausrottung der indigenen Völker Amerikas und ein halbes Jahrhundert nach der Shoa, nicht mehr die Eroberer und Krieger, sondern deren Opfer.
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Geschichte zum Programm erhoben
Die Geschichte zählt immer schon zum moralischen Inventar, mit dem sich Politik gelegentlich schmückt. Bekanntlich hat die derzeitige österreichische Regierung jedoch die Geschichte zum Programm erhoben. In der Präambel ihrer Arbeitserklärung vom Februar vorigen Jahres bekennt sie sich zum Schuldanteil Österreichs an der Shoa und zur Übernahme von Verantwortung.

Dies sozusagen als Tribut und Geste guten Willens gegenüber einer europäischen Staatengemeinschaft, die zumindest einer der Koalitionsparteien hinsichtlich ihrer politisch-moralischen Grundlagen misstraut.

Inzwischen hat sich das historisch-politische Programm dieser Regierung erweitert - durch die Junktimierung der Revision der sogenannten Benes- und der AVNOJ-Dekrete, mit denen nach 1945 die Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Ex-Jugoslawien vertrieben worden waren, mit der Zustimmung Österreichs zur Osterweiterung der EU.
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Burgers Aufforderung zum Vergessen
Nun fordert Rudolf Burger (im "Standard" vom 9./10.6.) eine Politik des Vergessens, und er hat damit auf fatale Weise, wie so oft in den letzten Monaten, recht und unrecht zugleich. Eine Gedenkpolitik, die die Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus zum Ritual erstarren läßt, stimuliert bloß die Faszination delirierender Macht. Und die Instrumentalisierung der Vergangenheit für taktische Ziele ist ein riskantes Spiel, wie die SPÖ in der "Affäre Waldheim" gelernt hat.

Aber Rudolf Burgers Plädoyer ist keine Warnung an Schüssel&Co., zu glauben, die Teilrestitution so genannt "arisierten" Vermögens könne über ihrer Regierung den Glanz moralischer Integrität verbreiten. (Oder eine Warnung davor, die Instrumentalisierung der Geschichte der deutschen Landsmannschaften unterminiert die gemeinsamen Zukunftschancen einer Region.) Eher gegenteilig richtet es sich gegen die Kritikerkreise, die - in Österreich wie auch in Deutschland - Skepsis gegen das politische System mit der "Verdrängung der Vergangenheit" argumentieren, und, im weiteren Horizont, gegen das Shoa-Business.
Trauma, Amnesie und Nostalgie
Seit etwa zehn Jahren gibt es eine intensive internationale Debatte über die Formen und Effekte von Gedächtnis, Erinnerung und Gedenkpolitik. Fasst man (mit Andreas Huyssen) deren Ergebnisse in einem Satz zusammen, so besagt dieser: Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Geschichtskultur die Form des Traumas, der Amnesie und der Nostalgie angenommen.

Die Erinnerungen an dieses Jahrhundert sind solche an den Zerfall von großen Ideen, an Repressionen und an Massaker, deren Opfern kein "Sinn" für ihre Leiden mehr angeboten werden kann. Für diese sind die Erinnerungen quälend, während sie für den Rest der Welt als flüchtige Bilder in den Massenmedien zirkulieren und von erprobten Erzählschemen überwältigt werden.
Undarstellbarkeit der Shoa
Dies hat schon den Kern der von Theodor Adorno in den 1940er Jahren ausgelösten Debatte um die "Undarstellbarkeit" der Shoa ausgemacht. Jede Form von Mimesis des nationalsozialistischen Mordens, so Adorno, stelle sich als Betrug dar, da sie so tue, als entspräche die hier praktizierte Macht einem menschlichen Vermögen zur Grausamkeit und sei nicht Tatbestand einer komplexen verdinglichten gesellschaftlichen Konstellation.

(Korrespondierend, so muss man die Überwältigung der Realität der Konzentrationslager durch den Roman und das Unterhaltungskino, von Remarque bis Spielberg nennen, oktroyieren die Narrationen einen das subjektive Leid übersteigenden abstrakt-humanen Sinn: "Etwas" hat überlebt ...)
Erinnerungs-Prothesen
Sidra DeKoven Ezrahi hat in "History&Memory" (2/1995) die aktuelle Erfahrung zwischen Paul Celans "Todesfuge" und Claude Lanzmanns "Shoa"-Dokumentation damit bestimmt, dass die (kollektiven) Erinnerungen an den Massenmord in den Lagern nur als "Inkarnation" bestehen können, nicht als "Wissen".

Das besagt, in der Wiederaufnahme des oben zitierten Resumées Andreas Huyssens, dass es keinen quasi "positiven" Erinnerungsstand an die Shoa gibt, der dem Vergessen offenstehe. (Mediale Umarbeitungen, selbst noch fotodokumentarische Ausstellungen, können uns jedoch sozusagen eine Erinnerungs-Prothese (1) offerieren, wo wir den Schock vor den Bildern des Ereignisses durch die Stütze der vertrauten Form zu bannen vermögen.)
Burgers antikes Modell des Erinngerungsverbots
Rudolf Burger, das ist erstaunlich, lässt diesen Diskurs vollkommen außer acht. Statt dessen orientiert er uns an antiken Modellen des "Erinnerungsverbotes", das nach Kriegen und kollektiven Gewalttaten die Rückkehr in den Friedenszustand ermöglicht haben soll. Diese "Amnestie" genannte Praxis erweise sich für alle beteiligten Parteien vorteilhafter, weil sie einen Neubeginn ermögliche, statt Rache und neuerliche Gewalt aufzurühren.

Ob sich das historisch tatsächlich so darstellt, mag ich nicht zu beurteilen. Der fortgesetzte Kriegszustand scheint mir dahin zu deuten, dass es jedenfalls genügend andere Vorwände für Überfälle gegeben hat, als geschichtliche. Aber eines ist sicher: "Amnestie", wenn es sie faktisch gegeben hat, war etwas für Aristokraten und Souveräne, die den Krieg als Duell unter Gleichrangigen führen konnten. Ähnliches wird sich vom nationalsozialistischen Eroberungskrieg schwerlich behaupten lassen.
NS-Opfer leiden darunter, nicht vergessen zu können
Wenn Rudolf Burger die "Amnestie" dafür ins Spiel bringt, dann setzt er voraus, dass den europäischen Juden, der polnische Intelligenz, den Sinti und Roma, den Homosexuellen eine dem deutschen Staat reziproke Souveränität zugekommen wäre und zukäme. Tatsächlich hatten die meisten Opfergruppen der Nationalsozialisten gar keine Chance, eine "starke" Identität auszubilden, die ihnen dann möglicherweise psychologische und militärische Gegenwehr ermöglicht hätte.

Das Problem stellt sich realiter umgekehrt: Die machtlosen Opfer von Folter und Terror, so sagen uns langjährige Studien, sind nicht Herrscher über ihre Erinnerung, sondern sie leiden gerade darunter, nicht vergessen zu können. (Die späten Selbstmorde von so hoch reflektierenden Persönlichkeiten wie Primo Levi, stehen in Beziehung zur Selbstanklage, die Levi schon in seinen ersten Büchern über seine Haft im Konzentrationslager Auschwitz erhoben hat, nämlich angesichts der unzähligen Toten überlebt zu haben.)
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Ricoeur: Aktives und passives Vergessen
Nun hat Rudolf Burger dennoch völlig recht, wenn er die Verhärtung von Erinnerungen als bedrohliche Selbstfesselung attackiert. Aber es gibt mehr als nur eine Art, zu vergessen.

Paul Ricoeur hat in der kleinen Schrift "Das Rätsel der Vergangenheit" aktive und passive Formen des Vergessens unterschieden. Aktives Vergessen erfordert, ein Bild von einer erstrebenswerten gemeinsamen Zukunft zu haben, auf die hin Kränkungen, Demütigungen, Enttäuschungen der Vergangenheit ihre beunruhigende Wirkung verlieren. Die Erinnerungen können dann distanziert zur Historiographie oder zum Museum werden.

Aktives Vergessens ist aber kein rationaler Prozess, wie es das Modell der "Amnestie" impliziert, sondern eine Gabe, ein Geschenk demgegenüber, der einem die Verletzungen zugefügt hat. Aktives Vergessen, so Ricoeur, heißt Verzeihen, und ist das absolute Gegenteil des Übereinkommens, nicht mehr von der Vergangenheit zu reden. Es erfordert, dass das Schuldeingeständnis des Aggressors als aufrichtig empfunden wird, als Ausdruck seines grundlegenden Wandels, und als Garantie gegen die Wiederholung der Aggression
->   Mehr zur offiziellen österreichischen Gedächtnispolitik
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Politisch prekäre Praktiken
Die Geste des eigenen Schuldeingeständnisses wie des Verzeihens seitens der Opfer sind politisch prekär. Sie stören empfindlich die Vorstellung von den moralischen Grundlagen der eigenen Gemeinschaft.

Das "Vergessen", das Rudolf Burger einfordert, setzt, wenn es nicht zur Amnesie verkommen soll, ein politisches Niveau voraus, in dem Souveränitätseinbußen, etwa durch die Zurückweisung der Bitte um Verzeihen durch die Opfer, verkraftet werden.
Gedenkpolitik in Österreich: neo-national
Das Problem mit der "Gedenkpolitik" in Österreich scheint mir ehrlich gesagt nicht im Vorwurf zu liegen, die verbrecherische Dimension der Geschichte werde hierzulande "verdrängt". Eher darin, wie seit der "Affäre Waldheim" von der konservativ-populistischen Koalition zwar ein Schuldeingeständnis gemacht, die Verhandlung dieser Schuld aber als autonome innere Angelegenheit stilisiert wird - "Wir" gegen die "Ostküste".

Dieser unzeitgemäße offizielle Neo-Nationalismus ist keine Reaktion auf die Weigerung (von wem auch immer), zu vergessen, sondern er nährt sich parasitär am Spiel mit der Stimulierung und Zurückweisung der Geschichte.
(1) Ich beziehe mich mit diesem Begriff auf eine eben begonnene Studie von Andreas Robnik über ¿Survivalismus im Mainstream-Kino¿ am Institut für Zeitgeschichte
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Dieser Artikel stellt eine erweiterte Fassung meines Kommentars im "Falter" vom 20.6.2001 dar.
->   Falter
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