Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
War die Neutralitätspraxis ein Selbstbetrug ?
Die Wegwerf-Politik-Gesinnung
 
  "Es ist Zeit für das Ende einer Lebenslüge", titelte Peter Rabl vor zwei Wochen in seiner Rubrik im "Kurier". Es handelte sich um einen Kommentar zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Neuorientierung Österreichs.  
Ende einer 'Lebenslüge' ...
Bild: APA
Dabei nahm Rabl die österreichische Neutralität bzw. die Neutralitätspolitik ins Visier, die ihm in ihren militärischen Aspekten zweifelhaft erscheint. Das österreichische Bundesheer ist für einen militärischen Ernstfall nicht gerüstet, und auch die wehrpolitischen Doktrinen entsprechen nicht mehr einer Ära nach dem "Kalten Krieg" - soweit, brutal vereinfacht, das Argument, das in allgemeiner Form niemand bestreiten wird.

Ob man nun die dadurch geforderte Debatte sogleich und ausschließlich im Kontext der NATO und der WEU diskutiert, ist eine andere. Doch das ist es naturgemäß nicht, was einen Historiker (sozusagen als "deformation professionelle") elektrisiert. Was einem Historiker sozusagen "zustößt" ist der saloppe terminologische Umgang, nicht nur Peter Rabls, mit dem geschichtlich so gesättigten Begriff der "Lebenslüge".
... ignoriert historischen Zusammenhang
Um es zu spezifizieren: Der Vorwurf der "Lebenslüge" bezieht sich auf die Formulierung der Neutralitätserklärung, wonach diese "mit allen zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigt" werden wird. "Keine paar Tage hätte unser lausig ausgerüstetes Bundesheer diesen Auftrag erfüllen können", meint Peter Rabl den Kern seines Vorwurfs präzisieren zu können; Österreich habe sich in der Realpolitik stets nur auf die Hilfe von außen orientiert.

Nun, das mag so gewesen sein und noch immer stimmen. Aber den Tatbestand der "Lebenslüge" wird man darin nur dann erkennen, wenn man den historischen Kontext der Neutralitätserklärung einfach ignoriert. Es war nicht nur Jux und Tollerei, die 1955 zur freiwilligen Erklärung der immerwährenden Neutralität geführt haben, sondern der logische Abschluss von beinahe einem Jahrzehnt Verhandlungen um den Staatsvertrag und ein Akt von Selbstrespektierung.
Staatsvertrag: Konkrete militärische Bestimmungen
Ich nenne den Staatsvertrag als Kontext der Neutralität hier vor allem deshalb, weil er auch militärische Bestimmungen enthielt, die die Floskel des "mit allen gebotenen Mitteln" sehr konkret bezeichnen.

So war der Republik durch den Staatsvertrag untersagt: irgendwelche Art von selbstgetriebenen oder gelenkten Geschossen, Geschütze von einer Reichweite von mehr als 30 Kilometer, die Herstellung von Kriegsmaterialien deutschen Entwurfs - ich nenne aus der ziemlich langen Liste verbotener Kriegsmaterialien nur die beiden Bestimmungen, da andere durch die technologischen Entwicklungen im nachhinein gesehen skurril wirken. (Beispielsweise das Atombombenverbot.)
Erfahrungshintergrund zäher Verhandlungen
Wichtiger scheint mir, dass sich die Alliierten kontinuierliche Korrekturen dieser Verbotsbestimmungen vorbehalten haben. Die Neutralitätserklärung ist nicht nur im Wissen um diese Restriktionen gefasst worden, sondern vor dem Erfahrungshintergrund zäher Verhandlungen, in denen die Sicherung gegen ein militärisches Potenzial Österreichs sehr massiv vorgetragen worden ist.
Auf Kompromiss mit Alliierten orientiert ...
Nun, ich meine nicht, dass die Staatsvertragsbedingungen die detaillierte Ausformung der Verteidigungspolitik festgelegt hätte; und dies auf Dauer. Ich meine jedoch, dass die dort festgelegten Rahmenbedingungen die österreichische Sicherheitspolitik sehr deutlich auf einen kontinuierlichen Kompromiss mit den Alliierten hinorientiert haben, denen die Neutralitätserklärung nur eine Art Selbstermächtigung - im Sinne des Primats der Politik - angefügt hat.
... bei aktiver Neutralitätspolitik
Österreich hat sich tatsächlich - etwa im Vergleich mit der Schweiz - zu einer aktiven Neutralitätspolitik entschlossen; deren militärische Dimension kann nicht im Nachhinein unter dem Postulat technisch-taktischer Maximierung betrachtet werden, sondern muss vom Kalkül ausgehen, dass die Stabilität und Berechenbarkeit der (Außen)Politik höher gewertet wurde, als eventuell periodische Nachrüstungsverhandlungen.
Selbstverständnis: Mehr pazifistisch als neutral?
Vielleicht hat sich über die Jahrzehnte die Neutralitätsdoktrin gegenüber diesem instrumentellen Ausgangsverständnis verselbständigt und ist zum Bestandteil einer neuen staatlichen Identität geworden. Das österreichische Selbstverständnis ist wahrscheinlich mehr pazifistisch, denn neutral.

Gerade deshalb: Ich halte die Auseinandersetzung mit der Tiefe der Verankerung dieses politischen Grundverständnisses und seine kollektiven mentalen Folgewirkungen für einen Bestandteil der aktuellen Neutralitätsdebatte, der mindestens dieselbe Aufmerksamkeit beanspruchen muss, wie der Diskurs der Experten über Waffensysteme und gewandelte Krisenszenarien.
Keine 'zweite Lebenslüge'
Und deshalb reagiere ich als Historiker (aber auch als einfacher Staatsbürger) allergisch auf das Entdecken einer zweiten "Lebenslüge" (neben der vom "ersten Opfer Hitlers"). Allergisch deshalb, weil erstens die Formel von der "Lebenslüge" den Erfahrungsprozess dieser 2. Republik zu tilgen geeignet ist und durch die Dekontextualisierung Politik generell als ein großartiges und erfolgreiches Täuschungsmanöver erscheinen lässt.

Und zweitens, weil es die Vorstellung autoritär unterbindet, dass die Neutralität einen identitätsstiftenden Wert hat. Aus welcher Sorge heraus Peter Rabl seine Definition auch immer entwickelt haben mag - sie ist nicht weniger fatal für das Ausverhandeln der Neutralität, als es die momentane Abschaffung des Bundesheeres wäre.
 
 
 
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