Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Gewerkschaften in der Ära des Postfordismus  
  Ganz gleich wie die Urabstimmung des ÖGB ausgeht, deren Ergebnis demnächst veröffentlicht werden wird - eine Wiederaufrichtung der klassischen Form von Sozialpartnerschaft, wie sich dies die Führung des Gewerkschaftsbundes vorstellt, ist kaum zu erwarten.  
Das Ende der Fabriksgesellschaft
In einem kleinen Aufsatz aus Anlass des 1. Mai 1990 scheint der französische Philosoph Gilles Deleuze schon alles vorhergeahnt zu haben. Die Schwierigkeiten, in denen sich die Gewerkschaften der klassischen Industrieländer befanden, waren für ihn der Ausdruck eines Übergangs von der Fabriksgesellschaft zur Informationsgesellschaft.

Während die Fabrik die Menschen als ausgeprägt figurierte Massen organisiert hat, deren einzelnen Abteilungen klare Aufträge erteilt wurden, ist die neue Unternehmenskultur des digitalen Zeitalters von der Auflösung der homogenen Massen und der Herstellung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs über den permanenten Zwang zur Suche nach Kooperationsmöglichkeiten mit temporären Partnern gekennzeichnet.
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Kontrollgesellschaft
Dienstleistungen und Aktien, nicht mehr das fix veranlagte Kapital der Fabriksgesellschaft, bilden die treibenden Kräfte der von Deleuze auch "Kontrollgesellschaft" genannten Ökonomie - Kontrollgesellschaft, weil sich die Menschen hier ständig daran orientieren müssen, sich selbst "sinnvoll" in Prozesse einzugliedern.

Wenn die Menschen der Fabriksgesellschaft zur Arbeit kommandiert wurden, so müssen sie in der neuen Gesellschaft, überpointiert gesagt, die Arbeit entlang von Kooperations- und Kommunikationstechnologien neu erfinden.
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Netzwerksökonomie ...
Für die Bezeichnung der Unternehmensstruktur nach der Fabriksgesellschaft hat sich der Begriff des Netzwerkes durchgesetzt. So spricht man bereits von "virtuellen Unternehmen", die von unterschiedlichen Personen und Firmen exklusive für die Entwicklung eines Gutes (beispielsweise für die Kreierung einer neuen Finanzdienstleistung) eingegangen und nach Abschluss der Entwicklung wieder aufgelöst werden.
... mit weltweiten Subproduzenten
Im typischen Fall allerdings umgibt sich in dieser "Netzwerksökonomie" ein gut etabliertes Unternehmen mit zahlreichen Subproduzenten, die es weltweit bei der Entwicklung und der Produktion eines Gutes koordiniert, um das Endprodukt selbst zu vermarkten.

An der Produktion eines Sportschuhs, beispielsweise, können so Designer aus Europa mit Chemiefabriken in Südostasien und Patentanwälten in den USA beteiligt sein, während die Kostenrechnung in - sagen wir - Indien erfolgt.
"Vertikale" Fabrik weicht "horizontaler"
Die "vertikale Fabrik", die noch vom technischen Büro über die Verwaltung bis zur Montage und zum Auslieferungslager alles rund um das Produkt integrierte, weicht der horizontalen Integration selbständiger Produzenten.
Auswirkungen auf Arbeitsbeziehungen
Schon vor einigen Jahren hat der Geograf David Harvey die Auswirkungen dessen auf die Arbeitsbeziehungen analysiert und die zunehmende Differenzierung beschrieben. Er machte neben einer Kerngruppe, die auf dem "ersten Arbeitsmarkt" aktiv, hoch qualifiziert und funktional flexibel ist, eine erste und eine zweite periphere Arbeitskräfte-Gruppe aus, die sich selbst wieder in Menschen mit Kurzzeitverträgen, Teilzeitbeschäftigte, Leute im Job-sharing-System oder mit öffentlich subventioniertem Ausbildungsplatz u.a.m. differenzierte.
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Fehlende Kollektive
Um diese Gruppen herum lagern sich für Harvey die Arbeitskollektive bei Sub-Kontrakt-Firmen, Leiharbeiter und Selbständige. Wo die integrierte Fabrik die Menschen zu einem Kollektiv machte, das bereits mit einem Disziplinbruch in einem zunächst unscheinbar wirkenden Element des Unternehmens Gegenmacht ausüben konnte, gibt das System der "flexiblen Akkumulation", wie es auch genannt wird, die Macht wieder an das kontrollierende Management zurück; wenngleich die Verletzlichkeit - schon allein aufgrund der Abhängigkeit von den technischen Netzwerken - nicht geringer geworden ist.
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Disziplin durch politische Zugeständnisse
In der klassischen Fabrik kam es auf die Disziplin an, schon um die in Maschinen und Material festgehaltenen hohen Kosten durch kontinuierliche Arbeitsprozesse und Arbeitsqualität nicht zu gefährden. (Das "fixe Kapital" geht heute immer mehr zurück: Jeremy Rifkin beziffert in seinem neuesten Buch "Access" den Anteil von geleasten Maschinen, Anlagen und Transportsystemen in den USA mit 1/3, in der BRD mit etwa 15 %.)

Diese Disziplin wurde - so behauptet jedenfalls ein renommierter Teil der sozial- und industriegeschichtlichen Literatur - durch Zugeständnisse an die Arbeiterschaft erkauft; Zugeständnisse in Form kontinuierlich steigender Löhne, die allerdings an die Entwicklung der Arbeitsproduktivität zurückgebunden wurden.
Korporatismus: Die "Goldenen Jahre" ...
Diese so genannt "korporatistische" Politik sicherte den Gewerkschaften für eine lange Periode, die in etwa von den 1940er bis Mitte der 70er reichte, Einfluss und Akzeptanz. Was auf der Ebene der Betriebe grundgelegt war, setzte sich auf übergeordnetem Wege fort - d.h. auf der Ebene der Koordination von Lohnverhalten, Preisverhalten und staatlicher Budget- und Finanzpolitik.
... der Wirtschaftspartnerschaft
In diesem arbeitsteiligen System konnten die Gewerkschaften im Austausch dafür, dass sie die Disziplin (im Betrieb und in der Lohnpolitik) garantierten, auch eine Reihe weiterer Zugeständnisse (namentlich in der Sozialpolitik) erreichen. (Die Voraussetzungen dafür - der hohe Stellenwert des nationalen Marktes und die Kontrolle über die Finanzdienste - sind inzwischen verloren gegangen. Neben der Deregulierung und Neueinführung weltweiter Finanzdienste sind dafür auch die konzerninternen Kapitalbewegungen global agierender Unternehmen verantwortlich, die rund 1/3 des statistisch gemessenen Welthandels ausmachen.)

Irgendwie hatte der Erfolgslauf des Korporatismus natürlich mit Magie zu tun: das System funktionierte, weil alle daran glaubten und sich an die selbstverordneten Ziele hielten. Nur: der Korporatismus bzw. - um die entscheidende Rolle, die dem Staat dabei zufiel, zu benennen - der "Fordismus" verfing sich letztlich an der eigenen Effizienz.
Die 70er Jahre: Neuverteilung der Kräfte
Die Krise der "alten Industrie", die in den 1970er Jahren aufbrechen sollte, hatte viele Ursachen, die hier nicht erörtert werden können. (Natürlich gibt es nicht nur unterschiedliche Auffassungen dazu, sondern auch eine ganze Reihe von noch wenig analysierten Krisenfaktoren. Österreich, was unsere speziellen Fragen noch schwieriger macht, als "spät" kommende Industrienation verfolgte in diesem Jahrzehnt des "Austro-Keynesianismus" übrigens eine andere Orientierung als die meisten europäischen Länder.)
Marktsättigung
Eine der Krisenursachen, die aus der "Effizienz" des Systems und der Teilhabe der Arbeiterschaft am Produktivitätswachstum resultiert, war die Sättigung des Marktes für eine Reihe von Massenkonsumgüter, wie desjenigen für Autos, auf denen die Nachkriegsökonomie aufgebaut hatte.
Soziale Kämpfe
Die vertikal integrierte Fabrik bot keinen Spielraum, die Produktivität übermäßig zu steigern oder die Löhne massiv zu senken, beziehungsweise, um es dem realen Verlauf angemessen zu sagen: solche Versuche führten zu heftigen sozialen Kämpfen, vor allem in Großbritannien, den USA, Italien und Frankreich. (Heute kommen einem solche Angaben schon wie moderne mythologische Erzählungen vor, und dennoch: 1970 erreichte die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage in den USA mit 52 Millionen den absoluten Höhepunkt - etwa das 3fache der frühen 60er.)
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Neue Technologien, neue Arbeitsorganisation
Die Neuorganisation der Arbeit unter Anwendung neuer Technologien - durch die Einführung von just-in-time Methoden konnte General Electric, um ein Beispiel zu geben, 26 von 34 Lagern in den USA schließen und den Kundendienst (durch Datennetze) in einem einzigen Zentrum zusammenfassen - war ein Bestandteil unternehmerisches Gegenstrategie - allerdings erst durchsetzbar, nachdem sich in programmatischen Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften (Fluglotsenstreik in den USA, Bergarbeiterstreik in Großbritannien) der Staat auf die Seite der Unternehmer gestellt hatte. (Ronald Reagan ließ die Fluglotsen von Militärpersonal ersetzen.)
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Reorganisation der Arbeitsbeziehungen
Die Reorganisation der Arbeitsbeziehungen verläuft weder harmonisch noch symmetrisch. Neben hochtechnisierten Dienstleistungsunternehmen existieren - möglicherweise im selben Gebäude - "sweat-shops", kleine, oft auf Frauen- bzw. Familienarbeit beruhende Produktionsbetriebe für Textilien, Nahrungsmitteln usw.

Daneben gibt es formal Selbständige, einschließlich der an Zahl gewaltig expandierenden Haushaltshilfen, die ein klassisch-proletarisches Leben führen, akzentuiert durch ihren Status als Migranten oder als ethnische Minderheit.
Keine Rückkehr zum Korporatismus
Und weiters gilt es zu definieren, in welcher Beziehung die Arbeiterschaft einer Subkontraktsfirma auf einem fernen Kontinent zu den "heimischen" Unternehmensstrukturen steht. (Im Augenblick, wie die Animositäten gegen die EU-Osterweiterung zeigen, lässt sich der ÖGB noch von der Vorstellung faszinieren, einen "geschlossenen [nationalen] Arbeitsmarkt" verteidigen zu können.)

Das Heer der so genannten "Marginalisierten", der "atypisch", "temporär" oder "prekär" Beschäftigten wird weiter zunehmen. Das ganze System der sozialen Sicherung oder des "Wohlfahrtsstaates" (einschließlich seiner Steuersysteme - aber auch einschließlich der Gewerkschaftsbeiträge und ihres Inkassos) hingegen beruhte auf der Annahme eines stabilen Erwerbslebens und dauerhafter Betriebszugehörigkeit.

Dies sind nur ein paar Stichworte, zu denen sich die Gewerkschaften mehr einfallen lassen müssen, als auf eine Rückkehr zum Korporatismus zu hoffen.
Ein neuer Anfang?
"In den Disziplinargesellschaften", schrieb Deleuze 1990, hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird ..." Diese Einsicht, stellte man sie der Urabstimmung im ÖGB voran, markierte immerhin einen Anfang.
 
 
 
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