Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Vaterländische Gute-Nacht-Geschichten  
  Manche geben nie auf. Seit nun fast schon zwei Jahrzehnten bemüht sich der Univ.-Prof.Dr.h.c. Gottfried-Karl Kindermann, einen - nicht unwichtigen - Teil der österreichischen Geschichte umzuschreiben.  
Mit dem Relaunch von "Österreich gegen Hitler - Europas erste Abwehrfront" hat er zumindest zwei Freunde gewonnen: den Herausgeber der "Kronen-Zeitung" und Andreas Khol, den Präsidenten des Nationalrats und Architekten der blau-schwarzen Koalition (der zum Vortrag ins Hohe Haus lud).

Tatsächlich hat Kindermann unter Strapazierung aller akademischen Rituale (Titel und Stelle, Rückzug hinter "Dokumente") beiden einiges zu bieten: die Macht, so kann man Kindermanns Fabel zusammenfassen, legitimiert sich selbst.
Die alten Märchen

Ende der 60er, Anfang der 70er arbeitete sich eine ganze Generation österreichischer Historiker (teils im Regierungsauftrag) an der Frage ab, was denn zur Zerschlagung der Demokratie in Österreich 1933/34 und in Folge zum "Anschluss" an NS-Deutschland geführt habe.

Eines haben die herangezogenen Dokumente, insbesondere die Klubvorstandsprotokolle der Christlichsozialen Partei, unumstößlich gezeigt: Seit dem Herbst 1932 entwickelte die Regierung Dollfuß einen offensiven Plan zur Suspendierung des Parlamentarismus und der politischen Grundrechte.

In Absprache mit den Repräsentanten von Industrie und Banken erwarteten sich Teile der Konservativen davon die Lösung der profunden Krise der Privatwirtschaft und der Staatsfinanzen. Das ganze wurde als "Regime aufgrund erweiterter Vollmachten" pseudojuridisch legitimiert - bis hin zur Wiedereinführung der Todesstrafe - und umgesetzt.
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Gottfried-Karl Kindermann: Österreich gegen Hitler - Europas erste Abwehrfront, 480 Seiten, Verlag Langen Müller 2003
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Die Gespenster
Auch in den 70er Jahren haben sich die Politiker nicht über die Ergebnisse von Historiker-Kommissionen einigen können. Konservative Politiker, die selbst im Austrofaschismus Funktionen innegehabt hatten, verteidigten sich mit Verweis auf das Gefühl der Bedrohung, das von den sozialdemokratischen Milizen ausgegangen sei.

Mit so vagen Äußerungen begnügt sich Herr Kindermann heute nicht. Er erfindet lieber ein Szenario, das sich unverblümt bei der Literatur zu Revolution und Konterrevolution in Russland 1917/21 bedient.
Methode der Geschichtsverdrehung
Der Schutzbund (die sozialdemokratische Miliz) habe die Sprengung von Regierungsgebäuden, "Klassenterror" und Erschießung gefangener gegnerischer Offiziere geplant. (Tatsächlich hat es nie auch nur die Idee gegeben, militärisch gegen das reguläre Heer offensiv zu werden.) Konservative Romantik, könnte man meinen.

Aber interessant ist dieses Ornament, weil es die Methode der Geschichtsverdrehung demonstriert, die Herr Kindermann so beiläufig praktiziert. Er gibt den späteren Bundespräsidenten Körner als Kronzeugen an für die Radikalisierung der Politik durch "Soldatenspielerei", "vergisst" aber zu sagen, dass Körner die Führung des Schutzbundes 1928 wegen deren Mangel an militärischer Entschlossenheit (!) kritisiert und alternative Vorstellung für eine Stadtguerilla entworfen hat.

Das könnte man zwar leicht nachlesen, schließlich gibt es seit langem ein gutes Dutzend Bücher und Artikel dazu, aber es macht sich besser, diese Fakten zu ignorieren, ins Gegenteil zu verkehren, und dann noch als "überraschenden", will heißen: neuen und originären Quellenfund zu verkaufen. ("Krone", 1.5.03)
Die Patrioten
"Österreich gegen Hitler" ist eine Fabel. Es verteilt moralische Werte entlang eines seltsam anmutenden, anachronistischen Begriffes - "Vaterländisch". So nannte sich die autoritäre Staatspartei, die das Land zwischen 1933 und 1938 diktatorisch regierte.

Herr Kindermann erspart sich die Anführungszeichen, denn Vaterland ist für ihn kein ideologischer Begriff. Er regelt Einschluss und Ausschluss, und er sagt auch, wer Instanz ist: nicht die Vertragsgemeinschaft der Bürger, sondern die vom Souverän gestiftete Gemeinschaft.

Diese Autorität - mag sie nun Engelbert oder Hans oder sonstwie heißen - darf nicht infrage gestellt werden. Sie existiert um ihrer selbst willen.
Österreich - das erste Opfer des Nationalsozialismus?
Solcherart kommen wir mit Herrn Kindermann wieder einmal zur leidlichen Frage: War "Österreich" "das erste Opfer" des Nationalsozialismus, und darf der heutige Staat samt seiner Regierung daraus eine moralische Sonder-Stellung (zumindest in Europa) ableiten?

Und, das macht die verqueren Argumente wahrscheinlich auch für Andreas Khol so interessant, der selbiges ja in der Waldheim-Affäre und während der EU-Sanktionen spielte: kommt nicht alles Übel daher, dass sich infame Subjekte dieses Staates dem patriotischen Zwang verweigern?
Eine andere Formel: Konkurrenzfaschismus
Die Historiker haben eine andere Formel. Sie heißt: Konkurrenzfaschismus. Und der bewaffnete Aufstand von Resten der sozialdemokratischen Parteimiliz im Februar 1934 - ohne Wissen und gegen den Willen der eigenen Politiker - wird als Präludium des europäischen Widerstandes gegen den Faschismus aufgefasst.

Man muss George Orwell's "newspeak" als Rezept, statt als Warnung missverstehen, um so wie Kindermann daraus "eine der größten Gefährdungen des Widerstandes gegen Hitler" zu machen.
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Nationalratspräsident Andreas Khol (ÖVP) hatte Gottfried-Karl Kindermann bei der Buchpräsentation Anfang April im Parlament namens der ÖVP seinen Dank für sein "Standardwerk" ausgesprochen. In ihm werde die Periode 1933 bis 1938 "aus der Zeit heraus" dargestellt. Darin komme der Selbstbehauptungswillen Österreichs zum Ausdruck, das im Würgegriff Adolf Hitlers gelegen sei. Khol wies laut APA zugleich unter Hinweis auf die "diktatorischen Regierungsformen" der "Vaterländischen Front" auf deren "Irrtümer" hin.
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