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Populationsgröße als "evolutionärer Flaschenhals"  
  Um hinlänglich gegen die Widrigkeiten der Natur gewappnet zu sein, bedarf es bei allen Lebewesen - evolutionsbiologisch betrachtet - möglichst großer genetischer Vielfalt. Die aber hängt auch von der Größe einer Population ab: Je mehr Individuen (und damit variantenreiches Erbgut) zur Verfügung stehen, desto besser ist dies langfristig für das Überleben der Gemeinschaft. Ist die Gruppe dagegen eher klein, sprechen Wissenschaftler auch vom "Flaschenhals-Effekt" - negative Folgen durch Inzucht drohen. Am Beispiel von Vögeln haben Forscher nun untersucht, wann die kritische Größe einer Gruppe erreicht ist.  
James Briskie und Myles Mackintosh von der School of Biological Sciences der University of Canterbury in Neuseeland untersuchten für ihre in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) erscheinende Studie insgesamt 37 in ihrem Heimatland lebende Vogelarten.
Für Tierschutzprogramme von großer Bedeutung
Schon bei Fortpflanzungsgruppen von etwa 600 Tieren macht sich demnach die geringere Auswahl an Paarungspartnern - ablesbar am Bruterfolg - bemerkbar. Wirklich dramatisch ist dies allerdings erst ab einer Population von 150 oder weniger Vögeln.

Ein Ergebnis, das in Zukunft auch bei Schutzprogrammen für bedrohte Tierarten eine große Rolle spielen könnte.
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Die Studie "Hatching failure increases with severity of population bottlenecks in birds" wurde am 29. Dezember 2003 in www.pnas.org online veröffentlicht (doi:10.1073/pnas.0305103101).
->   Abstract der Studie in www.pnas.org
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Evolution: Eine Geschichte der Anpassung
Die Evolution ist vor allem eine Geschichte der fortwährenden Anpassung von Lebewesen - etwa an geänderte Lebensbedingungen durch einen Klimawandel oder durch neue Arten, die in den angestammten Lebensraum drängen.
Je mehr Gene, desto besser für die Art
Um möglichst gut gegen eventuelle existenzielle Bedrohungen gewappnet zu sein, bedarf es einer möglichst großen genetischen Vielfalt innerhalb einzelner Populationen einer Art.

Denn dann ist - vereinfacht dargestellt - die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich irgendwo eine kleine Mutation findet, welche die Anpassung und damit das Überleben jener Gruppe ermöglicht. Und grundsätzlich gilt: Je mehr Tiere, desto vielfältiger das Erbgut.
Zu wenige Tiere: "Evolutionärer Flaschenhals"
Bilden dagegen relativ wenige Vertreter einer Spezies eine Fortpflanzungsgruppe, so sprechen Biologen auch vom "Flaschenhals-Effekt":

Die Anzahl der Individuen innerhalb einer Fortpflanzungsgruppe ist stark reduziert - die natürliche genetische Variation wird auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe herabgesetzt. Und selbst wenn die Population danach wieder anwächst, ist ihr Erbgut weniger vielfältig als zuvor.
Wann wird geringe Größe zum Problem?
Die Biologen James Briskie und Myles Mackintosh wollten es nun ganz genau wissen - und untersuchten insgesamt 37 verschiedene Vogelarten, die in Gruppen von fünf bis über 10.000 Individuen lebten.

Damit wollten die Wissenschaftler erstmals die minimale Populationsgröße bestimmen, ab der sich negative Folgen des Flaschenhals-Effekts deutlich zeigen würden, wie sie in den PNAS berichten.
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Potenziell wichtig für Schutz der biologischen Vielfalt
"Ernste Flaschenhälse können die genetische Diversität reduzieren und Inzucht fördern, da Individuen dazu gezwungen werden, sich mit nahen Verwandten zu paaren", schreiben die Forscher. Bislang jedoch sei nicht bekannt, bei welcher Populationsgröße jene negativen Folgen für die "Fitness" der Nachkommenschaft sich zeigten. Dabei ist jene Größe nach Meinung der Forscher potenziell wichtig für den Schutz der biologischen Vielfalt.
->   Mehr zum Flaschenhals-Effekt (fachberatung-biologie.de)
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Untersuchung am Beispiel von Vögeln
Die Biologen untersuchten 22 in Neuseeland heimische Vogelarten, die in Gruppen von fünf bis zu 5.500 Individuen lebten - und damit biologisch betrachtet bereits unter den Aspekt des evolutionären Flaschenhalses ("population bottelneck") fielen. Darunter bedrohte Arten wie die Meise Petroica macrocephala chathamensis.

Zusätzlich dienten 15 weitere Spezies in Fortpflanzungsgruppen von mehr als 10.000 Tieren als davon nicht betroffene Vergleichspopulationen.

Die negativen Folgen der Inzucht maßen die Forscher anhand des Fortpflanzungserfolges der verschiedenen Vögel. Also etwa daran, aus wie vielen Eiern in einem Gelege tatsächlich Jungvögel schlüpften. Gewisse natürliche Faktoren wie Feinde, die die Eier raubten, wurden ausgeschlossen.
Größte Brutausfälle bei weniger als 150 Tieren
Das Ergebnis ihrer Studien: Die Brutausfälle durch unbefruchtete Eier oder den Tod des Nachwuchses bereits im Embryonalstadium waren in Populationen mit 150 Tieren und weniger am größten, zeigten sich aber bereits deutlich bei Fortpflanzungsgruppen mit rund 600 Mitgliedern.
Programme für bedrohte Arten: Meist weniger als 75 Tiere
Die Ergebnisse sind vor allem auch für Tierschutzprogramme von Interesse, die sich der Aufzucht und Bewahrung von bedrohten Arten widmen. Denn der Versuch, neue Populationen jener Spezies zu gründen, umfasst nach Angaben der Forscher meist weniger als 75 einzelne Tiere.

Diese Zahl aber ist der Arbeit zufolge viel zu niedrig. Die Forscher regen daher an, die Grundlagen solcher Schutzprogramme zu überarbeiten. Sonst - so ihre eindringliche Warnung - könnten die Umweltschützer das Überleben der Art, die sie zu schützen versuchen, auf lange Sicht gefährden.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   School of Biological Sciences der University of Canterbury
->   New Zealand Birds Gallery
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01.01.2010