News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Verdrängung erstmals neurobiologisch bewiesen  
  Nach der Theorie Sigmund Freuds können unliebsame Gedanken verdrängt werden - ein alltäglicher Vorgang, der im ungünstigsten Fall aber psychische Störungen verursachen kann. Was von Gegnern der Psychoanalyse seit ihrer Entstehung heftig bestritten wird, bekommt nun Schützenhilfe aus der Neurobiologie. US-Forscher haben den ersten neurobiologischen Beweis vorgelegt, wie der Mechanismus funktioniert - zumindest bei absichtlichem Vergessen.  
Mit Hilfe bildgebender Verfahren fanden sie heraus, dass dabei die gleichen Hirnregionen beteiligt sind, die auch beim Abbruch von Körperbewegungen aktiviert sind, wie der Psychologe Michael Anderson von der University of Oregon und sein Team in "Science" schreiben.
...
Die Studie ist unter dem Titel "Neural Systems Underlying the Suppression of Unwanted Memories" in "Science" (Bd. 303, S. 232, Ausgabe vom 9. 1. 04) erschienen.
->   "Science"
...
Verdrängung bei Freud
In der psychoanalytischen Theorie sind seelische Störungen ins Unterbewusste verdrängte Vorstellungen, Ängste und Wünsche. Ihr zu Folge ist es möglich, diese Störungen durch Bewusstmachung zu behandeln. In den 1890er Jahren setzte Freud dazu das "kathartisch-therapeutische" Verfahren ein, später seine Technik der "freien Assoziation", bei der unangenehme Erlebniserinnerungen - oft aus der Kindheit stammend - wieder ins Bewusstsein gebracht werden.

Die Verdrängung ist bei Freud ein Abwehrmechanismus, der eine mit einem Trieb verbundene Vorstellung ins Unbewusste abschiebt. Sie ist sowohl ein "normaler" psychologischer Mechanismus, der zur Bildung unbewusster Inhalte führt, kann aber auch ein pathologischer Vorgang sein, der besonders bei der Hysterie eine Rolle spielt.
->   Mehr über Sigmund Freud (wikipedia)
Reduktion auf bewusste Prozesse
Ist Verdrängung bei Freud ein zentraler und komplexer Mechanismus, so reduzieren die US-Forscher nun das Phänomen. Sie geben zwar an, die neurobiologischen Grundlagen der Verdrängung ("repression") gefunden zu haben, in einer vergleichsweise knappen Fußnote geben sie aber an, sich ausschließlich mit "bewussten Prozessen" beschäftigt zu haben.

Und das wird schon klar, wenn man sich die Versuchsanordnung der Neurowissenschaftler ansieht.
Der Versuch: Auswendig lernen von Begriffspaaren ...
Im ersten Schritt mussten die insgesamt 24 Versuchsteilnehmer 36 Begriffspaaren (z.B. "Prüfung-Kakerlake", "Dampf-Eisenbahn" oder "Kiefer-Gummi") auswendig lernen - und zwar so lange, bis sie bei einer nachträglichen Befragung mindestens drei Viertel der Wörter richtig kombinierten.
... und gezielte Verdrängung
Danach wurde ihre Aufmerksamkeitsleistung verschieden gebündelt. In einer ersten Kategorie wurden die Probanden mit den ersten Begriffen konfrontiert und dazu angehalten, an die zweiten Begriffe zu denken. In der zweiten Kategorie sollten sie die Gedanken an den zweiten Begriff explizit unterdrücken.

Während der Bewältigung dieser Aufgaben wurden die Gehirnaktivitäten der Probanden mit Hilfe von funktioneller Kernspinresonanz (fMRI) aufgenommen.
Überprüfung: Absichtliche Verdrängung funktioniert
Nach dieser Phase überprüften Michael Anderson von der University of Oregon und John Gabrieli von der Stanford University die Erinnerungsfähigkeit an alle 36 Wortpaare. Das Ergebnis: Die Versuchsteilnehmer konnten sich an die absichtlich unterdrückten oder verdrängten Wortpaare signifikant schlechter erinnern als an die anderen.
...
Den prinzipiellen neurobiologischen Mechanismus der Verdrängung hat Anderson bereits 2001 in einem Beitrag in "Nature" beschrieben. Die Studie ist unter dem Titel "Suppressing Unwanted Memories by Executive Control" in "Nature" (Bd. 410, S. 366, Ausgabe vom 15. März 2001) erschienen.
->   Mehr dazu: Verdrängung ist erlernbar (15.3.01)
...
Reduktion der Hippocampus-Aktivität
 
Bild: Michael C. Anderson

Und mit Hilfe der fMRI-Scans konnte auch die Areale lokalisiert werden, die zu diesem "Vergessen auf Ansage" geführt haben: Nach Angaben der Forscher handelt es sich um die gleichen Regionen im präfrontalen Cortex, die auch für den Abbruch körperlicher Aktivität verantwortlich sind.

Diese Kontrollprozesse reduzieren die Gehirnaktivität im Hippocampus - einem Bereich, dem für die Erinnerungsleistung große Bedeutung zukommt.
...
Widerspricht der Intuition
Gabrieli zufolge haben die Studienergebnisse "psychologisch betrachtet auch eine komische Seite", die der Intuition widerspricht. "Wenn man Menschen im Alltag sagt 'Denke nicht an einen rosa Elefanten' ist dies das erste, woran sie denken." Ähnlich verhalte es sich mit besonders unangenehmen oder unwillkommenen Gedanken.
->   Gerhard Roth: Wie das Gehirn die Seele macht
...
Ähnlich: Kontrolle über Psyche und Physis
In einer Presseaussendung verglich Anderson diese Fähigkeit der Gedankenkontrolle mit der Kontrolle über physische Bewegungen: Wenn man etwa im Augenwinkel sieht, "wie eine Pflanze von einem Fenstersims fällt und versucht diese gedankenschnell aufzufangen - und im letzten Moment merkt, dass es sich um einen Kaktus handelt, den man besser fallen lässt" - dies sei ähnlich der absichtlichen Leistung des Vergessens, die er experimentell untersucht hat.
Maß für die Stärke des Vergessens
Ein Maß für die Stärke des Vergessens wollen Anderson und sein Team ebenfalls gefunden haben: Es besteht ihrer Ansicht im Aktivitätsgrad des präfrontalen Cortex während des Versuchs, die Erinnerungen zu unterdrücken.
Noch offen: Mechanismus der Verdrängung von Emotion
Die Auswirkungen ihrer Studienergebnisse seien mannigfaltig - und reichen von einem besseren Verständnis der kognitiven und neuronalen Mechanismen traumatisierter Menschen bis hin zu konkreten Therapien.

Allerdings, so schränken die Forscher ein, seien weitere Untersuchungen nötig, die sich speziell mit der Verdrängung emotionaler Erfahrungen beschäftigen. Denn bei den aktuellen Studien habe es sich um "relativ neutrale Ereignisse" gehandelt.

Und zwar ganz im Gegensatz zu den traumatischen Ereignissen, die bei Freuds Untersuchungen im Mittelpunkt standen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Memory Control Lab (Michael Anderson, Oregon University)
->   Gabrieli Cognitive Neuroscience Laboratory (Stanford University)
Mehr über Psychonalyse in science.ORF.at:
->   Zum 90. Geburtstag von Paul Ricoeur (25.2.03)
->   Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften (9.8.02)
->   Jacques Lacan - umstrittener Intellektueller (16.11.01)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010