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"Supersolid": Festkörper in neuem Materiezustand  
  Nahe dem absoluten Nullpunkt zeigt die Materie wundersame Eigenschaften. Eine davon ist die so genannte Suprafluidität. Diese ermöglicht etwas, das unter Alltagsbedingungen völlig unmöglich ist - nämlich Bewegung ohne jegliche Reibung. Amerikanische Physiker haben dieses Phänomen nun erstmals an einem Festkörper nachweisen können.  
Wie E. Kim und M.H.W. Chan von der Pennsylvania State University in einer aktuellen Publikation zeigen, können offensichtlich nicht nur Gase und Flüssigkeiten eine Bose-Einstein-Kondensation ausbilden. Dieses Kunststück gelang nun mit einem "superfesten" Helium-Isotop.
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Der Artikel "Probable observation of a supersolid helium phase" von E. Kim und M. H. W. Chan erschien in der Fachzeitschrift "Nature" (Band 427, S. 225-7, Ausgabe vom 15.1.04).
->   Zum Originalartikel
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Fest, flüssig, gasförmig ... und?
Dass die Liste der drei klassischen Aggregatszustände (fest, flüssig, gasförmig) in extremen Energie- und Temperaturbereichen erweitert werden muss, ist allgemein bekannt. Bei sehr hohen Temperaturen tritt etwa der so genannte Plasmazustand auf. In diesem kommen keine ganzen Atome mehr vor, sondern nur noch ein gasförmiges Gemisch von freien Elektronen und positiven Ionen.
Am Nullpunkt spielt die Materie verrückt
Schreitet man an der Temperaturskala in die Gegenrichtung, dann wird es nahe dem absoluten Nullpunkt ebenfalls sehr interessant. Gewisse Metalle zeichnen sich unter einer bestimmten kritischen Temperatur durch die Supraleitfähigkeit aus - ein Zustand, bei dem Gleichstrom fast ohne Widerstand transportiert werden kann.
Supraleitung: Strom leiten ohne Widerstand
Die beeindruckenden Eigenschaften dieses Phänomens demonstrierte der Niederländer Heike Kamerlingh Onnes bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

Er setzte einen supraleitenden Bleiring bei 4 Kelvin unter Strom, schaltete die Quelle ab und beobachtete über ein ganzes Jahr Dauerstrom, ohne dass es zu einem messbaren Abfall gekommen wäre.

Ein Experiment, das offenbar nicht nur Personen mit hoher Stromrechnung überzeugt: Kamerlingh Onnes wurde dafür 1913 vom Nobelpreiskomitee mit der begehrten Auszeichnung in der Kategorie Physik bedacht.
->   Kamerlingh Onnes Nobelpreis 1913
Suprafluidität: Bewegung ohne Reibung
Das Gegenstück in Bezug auf die Wärmeleitung ist wiederum die so genannte Suprafluidität: Suprafluide Flüssigkeiten weisen nicht nur eine extreme hohe Wärmeleitfähigkeit, sondern auch eine verschwindend kleine Viskosität auf.

Das heißt, sie bewegen sich praktisch ohne innere Reibung. Entdeckt wurde dieser Materiezustand bereits im Jahr 1938, als der russische Physiker Pjotr Kapiza ein Heliumisotop mit der Massenzahl 4 auf unter zwei Kelvin abkühlte. Ein Experiment, das ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
->   Pjotr Kapiza Nobelpreis 1978
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Verwandtschaft mit Bose-Einstein-Kondensat
Die Superfluidität ist eng mit einem Phänomen verwandt, das unter dem Namen Bose-Einstein-Kondensat bekannt ist. Demzufolge neigen Teilchen aus der Klasse der Bosonen bei extrem tiefen Temperaturen zum spontanen Gleichschritt und verhalten sich so, als gehörten sie zu ein und dem selben Super-Atom. Auch Helium 4 ist ein Boson und kann daher so einen Zustand einnehmen. Das Besondere daran ist, dass Quanteneffekte, die normalerweise auf die Mikrowelt beschränkt sind, so auch in unserer makroskopischen Lebenswelt beobachtbar werden.
->   Mehr zum Bose-Einstein-Kondensat bei Wikipedia
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Nachweis: Die Natur im Kreuzverhör
Rein theoretisch vermutete man schon länger, dass ein ähnlicher Zustand auch bei Festkörpern existieren könnte. Nur: Vermuten und Nachweisen sind zwei verschiedene Dinge, zumal wenn die Natur unter den physikalischen Alltagsbedingungen nicht immer sehr auskunftsfreudig ist.

Um der Natur also ein weiteres Geheimnis abzuringen, mussten ihr E. Kim und H.W. Chan von der Pennsylvania State University die berühmten Daumenschrauben der neuzeitlichen Wissenschaft anlegen.
Extremer Druck und extreme Kälte
Das heißt in diesem Fall: Das bewährte Helium 4 wurde einem Druck von 40 Atmosphären und einer Temperatur von 2.176 Kelvin (ungefähr minus 271 Grad Celsius) ausgesetzt und in den Nanoporen eines so genannten Vycor-Glases auskristallisiert.

Danach erhöhten die Forscher den Druck auf 60 Atmosphären und bestimmten gewisse Resonanzeigenschaften des Isotops. Diese weisen darauf hin, dass sich die Helium-Teilchen beinahe reibungslos bewegen.
"Ausgesprochen bemerkenswert"
Sollte das durch Folgestudien bestätigt werden, dann wäre damit bewiesen, dass nicht nur Gase und Flüssigkeiten, sondern auch Festkörper ein Bose-Einstein-Kondensat bilden können.

In einem Begleitartikel beurteilt John Beamish von der University of Alberta das Experiment der beiden US-Amerikaner jedenfalls als "ausgesprochen bemerkenswertes Resultat".

Beamish verwendet in diesem Zusammenhang auch gleich den neuen Begriff, um den das einschlägige Vokabular erweitert werden müsste: "Supersolid".

Robert Czepel, science.ORF.at
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Der Artikel "Condensed-matter physics: Supersolid helium"von John Beamish erschien in der Fachzeitschrift "Nature" (Band 427, S.204 -5, Ausgabe vom 15.1.04).
->   Zum Originalartikel (kostenpflichtig)
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->   Pennsylvania State University
->   University of Alberta
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01.01.2010