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Wie gesund sind probiotische Lebensmittel?  
  Lebensmittelhersteller bewerben die von ihnen produzierten Probiotika naturgemäß in den höchsten Tönen: Die Stärkung des Immunsystems, die Prävention von Darmkrankheiten u.v.m. werden "functional food" zugeschrieben. Einziger Schönheitsfehler daran: Die diesbezügliche Forschung befindet sich gegenwärtig noch in den Kinderschuhen. Ob und wie unsere Darmflora auf angereicherte Nahrungsmittel reagiert, ist über weite Strecken nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten.  
Wie einem Übersichtsartikel in der Fachzeitschrift "Nature" zu entnehmen ist, gibt es zumindest im Bereich der Allergievermeidung positive Studienresultate. Die Europäische Union investiert jedenfalls kräftig, um in diesem Neuland der Forschung für gesicherte Erkenntnisse zu sorgen.
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Der Artikel "Gut reaction" von Alison Abbott ist im Fachmagazin "Nature" (Band 427, S.284-6 Ausgabe vom 22.1.04) erschienen.
->   "Nature"
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1,2 Kilogramm Bakterien im menschlichen Darm
Dass in unserem Gedärm ein wahres Ökosystem von Mikroorganismen zuhause ist und dieses wiederum eine entscheidende Einfluss auf unsere Gesundheit hat, ist nicht zu leugnen.

Allerdings wurden von den rund 1,2 Kilogramm Bakterien, die (neben einigen Hefepilzen) im Körperinneren leben, erst wenige Spezies identifiziert.

Das liegt vor allem daran, dass viele Bakterien mit den herkömmlichen Methoden nicht zu kultivieren sind, da sie auf die Anwesenheit anderer Mikroben angewiesen sind.
EU-Investment soll Forschung antreiben
Um solche Wissensdefizite auszugleichen, hat die Europäische Union seit dem Jahr 1995 mehr als 15 Millionen Euro investiert. Im Rahmen dieser Initiative wurde ein EU-weites Forschungsnetzwerk etabliert, das unter anderem die Frage nach der bakteriellen Diversität im Darm klären soll.
Nicht-kultivierbaren Spezies auf der Spur
Wenn die direkte Methode via Kultivierung scheitert, dann greifen Mikrobiologen auf eine Technik zurück, die sie von ihren Kollegen aus der Boden- und Meeresbiologie übernommen haben.

Dabei konzentrieren sie sich z.B. auf einen Erbfaktor, der für die korrekte Herstellung von Proteinen unerlässlich ist, nämlich das Gen der so genannten 16S-rRNA.

Mittels einer gängigen Vervielfältigungstechnik (PCR, von "polymerase chain reaction") lassen sich auch kleinste Gen-Spuren aus Fäkalienproben in nennenswerte Quantitäten überführen. So kann man die Gensequenzen vergleichen, was wiederum einen Rückschluss auf die Diversität im Ökosystem Darm zulässt.
->   Mehr zur PCR (Wikipedia)
Jeder trägt individuellen Bakterienmix
Wie Alison Abbott in ihrem "Nature"-Artikel berichtet, konnte Joel Dore vom Forschungszentrum INRA bei Paris die Anzahl Bakterienarten auf diese Weise abschätzen.

Überraschendes Ergebnis: Trotz der unzähligen Mikroorganismen in unserem Gedärm dürften pro Person nur etwa 100 verschiedene Spezies vorhanden sein.

Noch erstaunlicher ist folgende Erkenntnis: Was das Artenprofil betreffe, gebe es auffallend wenige Überlappungen zwischen den jeweiligen Personen, so Dore. Mit anderen Worten, jeder Mensch trägt offensichtlich einen ganz individuellen Bakterienmix in seinem Inneren.
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Darm-Kolonisierung vom Zufall abhängig
Das rührt daher, dass der zunächst sterile Darm in der Geburtsphase durch Vaginal- und Fäkalbakterien und später durch solche aus der Nahrung und anderen Umweltquellen kolonisiert wird. Ein Prozess, der nicht zuletzt stark vom Faktor Zufall geprägt ist.
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"Gute" und "böse" Bakterienarten
Bild: Nature
Kategorie "Gut": Bifidobacterium (links) und Lactobacillus (rechts, blau)
Grundsätzlich lassen sich Bakterien aufgrund ihrer physiologischen Wirkung in "nützliche" und "schädliche" Arten einteilen.

Positive Eigenschaften sind etwa die Verdauung von Faserstoffen und Proteinen, die Herstellung organischer Säuren via Fermentation, sowie die Verhinderung der Ansiedlung von pathogenen Bakterienarten (wie etwa die Mitglieder der bekannten Gattung Salmonella).

In die Kategorie "Gut" fallen z.B. Gattungen wie Lactobacillus oder Bifidobacterium, die auch gängigen probiotischen Produkten zugesetzt sind.
Grundidee: Mehr Gutes ist besser
Bild: Nature
Kategorie "Böse": Salmonella (links), Clostridium botulinum.
Daraus lässt sich die Grundidee ablesen, die hinter den Nahrungsmitteln neuer Machart steckt:

Wenn es nützliche Bakterienarten - sowie Inhaltsstoffe, die deren Wachstum unterstützen (bei so genannten Präbiotika) - gibt, dann spricht eigentlich nichts dagegen, sie Yoghurt u. dergl. in erhöhtem Maß zuzusetzen.

Aufgrund der Dynamik des Darmsystems müssten solche Produkte allerdings täglich konsumiert werden, damit sich die erwünschten Effekte einstellen.
Wissenschaftlicher Nachweis steht noch aus
Allein, der wissenschaftliche Nachweis für die Richtigkeit dieser schönen Idee steht in vielen Bereichen noch aus. Darmspezialist Glenn Gibson von der University of Reading beurteilt den status quo des Wissens jedenfalls nüchtern:

Die meisten Studien auf diesem Gebiet genügten nicht den strengsten wissenschaftlichen Standards und lieferten zudem meist widersprüchlich Ergebnisse, so der britische Mikrobiologe.
Datenlage ist dürftig
Auch Peter Knoflach vom AKH Wels schätzte auf der 35. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Innere Medizin die Datenlage zur Wirksamkeit probiotischer Produkte kritisch ein: "Leider werden in Österreich auch Präparate vertrieben, für die weder Wirknachweise noch wissenschaftliche Studien erbracht wurden", wird der Mediziner in der Zeitschrift "ÄrzteWoche" zitiert.
->   "Ärzte-Woche"
Postive Ausnahmen: Diarrhoe, Allergien
Einige wenige klinische Untersuchungen mit gutem Studiendesign gibt es jedoch. So wurde etwa nachgewiesen, dass gewisse Bakterienarten gegen Diarrhoe oder entzündliche Darmkrankheiten helfen.

Weniger gut dokumentiert sind hingegen positive Einflüsse auf das Immunsystem, aber auch hier existieren wenige nennenswerte Ausnahmen.

Forscher der Finnischen Akademie der Wissenschaften konnten etwa zeigen, dass eine monatelange Behandlung von Schwangeren und deren Neugeborenen mit Lactobacillus rhamnosus die Anfälligkeit der Kinder für allergische Reaktionen deutlich reduzierte.
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Die Studie "Probiotics and prevention of atopic disease: 4-year follow-up of a randomised placebo-controlled trial" von Marko Kalliomäki et al. erschien in der Fachzeitschrift "Lancet" (Band 361, S.1869-71, Ausgabe vom 31.5.03).
->   "Lancet"
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Forschen im Ökosystem Darm
Zu Erforschen gibt es, darüber sind sich alle Experten einig, jedenfalls noch genug. So gesehen ist die Mikrobiologie des Darmes als spannende und aufstrebende Wissenschaftsdisziplin zu betrachten.

Einzig in ästhetischer Sicht sorgt die tägliche Arbeit mit menschlichen Fäkalien für den eine oder andere Trübung im Forschergemüt. Joel Dore gestand gegenüber "Nature", dass ihn kürzlich doch leichte Zweifel ob der Wahl des richtigen Fachgebietes befallen hätten.

Er besuchte nämlich einige Fachkollegen in Marseille, die sich auf Ozeanographie spezialisiert haben: "Ich sah auf das Mittelmeer hinaus und dachte: 'Offensichtlich arbeite ich doch am falschen Ökosystem.'"

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Forschungsinstitut INRA
->   University of Reading
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Functional Food - Wirkt es, oder nicht? (29.8.01)
 
 
 
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01.01.2010