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Frage der Identität: Was macht den Mann zum Mann?  
  Was macht den Mann zum Mann, die Frau zur Frau: die Gene oder die Erziehung, die Natur oder die Kultur? Je nach Wissenschaft werden auf die Fragen nach der Geschlechter-Identität bis heute verschiedene Antworten gegeben. Eine aktuelle medizinische Studie sieht die fundamentale Rolle der Gene gestärkt, Kulturwissenschaftlerinnen wie Judith Butler sehen das anders. Sie lehnen jede Art von Essenzialismus ab.  
Bei der Studie der Endokrinologen William Reiner und John Gearhart von der Johns Hopkins University in Baltimore wurden Babys untersucht, die mit missgebildeten Genitalien auf die Welt gekommen sind.

Wurde ihr männliches Geschlecht danach mit Hilfe von Chirurgie, Hormontherapie oder Erziehung "geändert", führte dies in der Mehrzahl aller Fälle nicht zu jener Identität, mit der die Person später einverstanden waren.
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Die Studie "Discordant Sexual Identity in Some Genetic Males with Cloacal Exstrophy Assigned to Female Sex at Birth" ist im "The New England Journal of Medicine" (Bd. 350, S. 333, Ausgabe vom 22. Jänner 2004) erschienen.
->   Original-Abstract in "NEJM"
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16 Studienteilnehmer mit kloakaler Ekstrophie
Reiner und Gearhart untersuchten 16 Individuen zwischen fünf und 16 Jahren, die unter dem seltenen Geburtsdefekt einer kloakalen Ekstrophie gelitten hatten.

Bei dieser embryologischen Mangelentwicklung sind Blasen- und Genitaltrakt missgebildet: Darm und Blase sind nicht getrennt und treten durch die offen liegende Bauchdecke hervor, die Genitalien sind unvollständig ausgebildet. Buben sind dreimal häufiger von der Geburtskrankheit betroffen als Mädchen und kommen mit einem winzigen Penis auf die Welt.
->   Selbsthilfegruppe Blasenekstrophie
Problematischer Penis
Zwar ist es der Kinderchirurgie relativ leicht möglich, die Organe wieder in das Innere der Körper zu verlagern, die Rekonstruktion des Penis ist aber bedeutend komplizierter.

Als Alternative wird er oft abgeschnitten, dem Patienten das weibliche Geschlechtshormon Östrogen verschrieben und die Eltern angehalten, ihr Kind als Mädchen großzuziehen. Die korrekte Bezeichnung für diesen Vorgang lautet "frühkindliche Zuweisung" des Geschlechts ("neonatal assignment").

Für ihre Studie verfolgten die Forscher nun den Lebensweg von 16 genetisch als Buben auf die Welt Gekommenen, denen auf diese Weise ein weibliches Geschlecht zugewiesen worden war. Heute sind sie zwischen fünf und 16 Jahre alt.
Die Hälfte will männlich sein ...
Acht von ihnen, betrachten sich trotz der "frühkindlichen Zuweisung" an das weibliche Geschlecht heute selbst als männlich. Laut Reiner und Gearhart mit entsprechend männlichen Eigenschaften und Interessen. (Wobei den Autoren dazu nicht mehr einfällt, als ihre Vorliebe für Fußball und Eishockey sowie ein Desinteresse an Puppen.)

Vier dieser acht wiederum beanspruchten ihre Männlichkeit spontan während ihrer Kindheit, obwohl sie nicht wussten, dass sie als genetisch männlich geboren wurden.
... die andere Hälfte ist weiblich oder indifferent
Drei der 16 untersuchten Personen lebten mit einer unklaren sexuellen Identität, fünf eindeutig als Mädchen. Letztere würden aber gerade in die Pubertät kommen, weswegen über ihre Geschlechtsidentität noch keine endgültige Aussage getroffen werden könne.

Der Schluss von Gearhart und Reiner: Die Chirurgen sollten die Kinder in Zukunft vor emotionalen Traumata schützen und ihnen die Zuweisung eines anderen denn ihres genetischen Geschlechts ersparen.
Komplexer als "Gebärmutter oder Umwelt"
Welche Erwartungshaltung der Umwelt, etwa der Eltern auf die Unzufriedenheit mit dem weiblichen Geschlecht und die "Wahl des männlichen" geführt hat, darauf gehen die beiden in ihrer medizinischen Studie freilich nicht ein.

Dass die Frage nach der Geschlechtsidentität noch ein bisschen komplexer als die Alternative von "Gebärmutter oder Umwelt" ist, beweist ein Blick in die Geschichte der Sexualwissenschaft anhand von Beispielen: Sigmund Freud, John Money und Judith Butler.
Freud: Kultur "lehnt" sich an natürlichem Körper "an"
Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychonalyse, beschreibt das Verhältnis von Körper und Kultur etwa in dem Begriff der "Anlehnung". Kulturelle oder gesellschaftliche Institutionen lehnen sich demnach an eine zugrundeliegende, unhintergehbare "Schicht des Seienden"an: etwa die konkrete Sexualität an den natürlichen Körper. Sie werde dadurch aber niemals vollständig durchdrungen und determiniert.
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Malinowskis Ethno-Studien
Bahnbrechendes in Sachen Sexualität hat diesbezüglich der Ethnologe Bronislaw Malinowski bereits 1929 veröffentlicht. Seine Studie über "Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien" zeigte eine gesellschaftlich organisierte Sexualität, die sich von jener von Freud in Europa beschriebenen komplett unterschied. Nicht Verdrängung, sondern ein freier, von der Gemeinschaft geförderter Umgang mit der Sexualität, standen im Mittelpunkt der Trobriander, der Südsee-Bewohner, so Malinowski - letzteres erwies sich dann in den Diskursen der 68er-Bewegung durchaus als anschlussfähig.
->   Mehr zu Bronislaw Malinowski (Uni Heidelberg)
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John Money: Zwischen "sex" und "gender"
Der Sexualwissenschaftler John Money hat 1955 anhand klinischer Fälle gezeigt, dass Kinder, bei denen die anatomische Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht eindeutig erfolgen konnte, nur wenig Probleme hatten, sich an das für sie ausgesuchte Geschlecht anzupassen.

Obwohl seine späteren Zwillingsstudien mit dem gleichen Forschungsinhalt heftig kritisiert wurden, bleibt mit seinem Namen ein Meilenstein in der Geschichte der Sexualwissenschaft verbunden: Money führte erstmals die Unterscheidung zwischen "sex" und "gender" ein.

Letzteres, im Deutschen am ehesten mit "sozialem Geschlecht" zu übersetzen, bedeutet die durch Erziehung erworbene Geschlechtsidentität, "sex" hingegen die biologisch definierte. Diese differenzierte Unterscheidung der Geschlechter wurde vor allem in der Frauenbewegung bedeutsam.
Judith Butler: Auch "sex" ist konstruiert
Noch einen Schritt weiter ging die amerikanische Kulturwissenschaftlerin, die "Das Unbehagen der Geschlechter" auch zu einem Buchtitel geformt hat. Sie versucht mit jeder Art von Essenzialismus zu brechen, den sie als politisch reaktionär einstuft.

Nicht erst "gender", sondern bereits "sex" - also der vermeintlich kulturell noch nicht beschriebene Körper - seien gesellschaftliche Konstruktionen. "Man kann den Körpern keine Existenz zusprechen, die der Markierung ihres Geschlechts vorherginge", so Butler.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Website John Gearhart
->   Magnus Hirschfeld-Archiv für Sexualwissenschaft
->   Judith Butler (theory.org.uk)
Zu dem Thema:
->   The Making of Monsters (Jungle World)
->   Intersexualität: Wenn der kleine Unterschied fehlt (GEO.de)
->   Sex: Unknown Site Map (Nova Online)
 
 
 
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01.01.2010