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Spieltheorie als Instrument der Evolutionsforschung  
  Die Evolution hat im Laufe von Jahrmillionen das Erscheinungsbild der Erde und ihrer Bewohner entscheidend beeinflusst - und zu einer ungeheuren Vielfalt geführt. Biologen treibt dabei vor allem auch die Frage um, wie man diese komplexen Prozesse möglichst exakt beschreiben kann. Diesbezüglich zeigt sich das Fach mittlerweile sehr interdisziplinär und bedient sich zunehmend einer recht beliebten mathematischen Analysemethode: der Spieltheorie.  
Der Mathematiker Karl Sigmund von der Universität Wien hat gemeinsam mit seinem Kollegen Martin Nowak von der Harvard University den Stand jener evolutionären Spieltheorie einer genaueren Betrachtung unterworfen.

Die beiden österreichische Forscher beschreiben die "evolutionären Dynamiken biologischer Spiele" in einer aktuellen Publikation im Fachmagazin "Science".
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Der Artikel "Evolutionary Dynamics of Biological Games" von Martin Nowak und Karl Sigmund ist - im Rahmen des Specials "Mathematics in Biology" - erschienen in "Science" (Bd. 303, Seiten 793 - 799, Ausgabe vom 6. Februar 2004).
->   "Mathematics in Biology" ("Science")
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Die Natur in der Sprache der Mathematik
"Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben", hat schon Galileo Galilei festgestellt. Und tatsächlich hat die Wissenschaft der Zahlen längst auch weite Bereiche anderer Forschungszweige erreicht.

Vor allem die Biologie bedient sich seit geraumer Zeit mathematischer Analysemethoden - darunter auch die so genannte Spieltheorie.

Was dieses Teilgebiet der Mathematik allerdings mit dem Prozess der Evolution zu tun hat, mag auf den ersten Blick nicht jedem einleuchten. Warum es dennoch so ist - und jene Methode gar als enorm wichtiges Hilfsmittel bezeichnet werden kann, beschreiben nun Sigmund und Nowak in ihrem Übersichtsartikel.
Interaktion, Kooperation und Spieltheorie
Im Rahmen der Spieltheorie werden Interaktionen zwischen Individuen oder Gruppen untersucht. Ein Ansatz, der beispielsweise auch bemüht wird, um kooperatives Verhalten von Menschen zu beschreiben.

Im Grunde geht es um bestimmte strategische Entscheidungssituationen, wie sie etwa das berühmte "Gefangenendilemma" verdeutlicht. Nicht überraschend ist die Spieltheorie daher auch in den Sozialwissenschaften ein beliebtes Instrument.
->   Das Gefangenendilemma (wikipedia.org)
Evolution als Prozess über Jahrmillionen
Der Terminus Evolution wiederum beschreibt eine seit Jahrmillionen stattfindende Entwicklung und Veränderung der Erde und ihrer Bewohner, die sich kaum direkt beobachten oder experimentell überprüfen lässt.

Nichtsdestotrotz versucht die Biologie, jene Prozesse in exaktere Worte zu fassen. Schließlich folgt auch die Evolution gewissen "Regeln".

Eine der wichtigsten lautet: Führt etwa eine genetische Mutation zu gewissen Vorteilen für das betreffende Individuum, so setzt sich dieser Erbgutfaktor innerhalb der Art mit größerer Wahrscheinlichkeit durch. Schließlich ist im andauernden Wettbewerb um Ressourcen jeder Vorteil wichtig.
Doch: Auch Anpassungen formen die Umwelt
Man könnte nun annehmen, dass sich die gesamte Evolutionsbiologie hiermit bereits erschöpft hat: Die durchschnittliche "Fitness" einer Population würde sich damit schlicht stetig erhöhen, also immer stärker ansteigen.
Das würde allerdings gut die Hälfte aller evolutionären Mechanismen völlig vernachlässigen, wie Sigmund und Nowak schreiben.

Denn obwohl die Umwelt für die Selektion gewisser Anpassungen verantwortlich ist (etwa wenn aufgrund der herrschenden klimatischen Bedingungen eine Genmutation auftritt), können diese Anpassungen umgekehrt auch die Umwelt formen.
Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Virus kontra Wirt
Das klingt zuerst vielleicht etwas seltsam - doch betrachtet man unterschiedliche Populationen innerhalb eines gemeinsamen Lebensraumes, wird der Zusammenhang schnell deutlich:

Schließlich bleibt die Anpassung eines Organismus - beispielsweise eines plötzlich für den Menschen gefährlich gewordenen Virus - nicht ohne Folgen für die weitere Entwicklung eines zweiten Organismus - in unserem Fall: des Menschen.

Eine zufällige Mutation begünstigt möglicherweise jene Personen, die dank der Veränderung gegen das Virus resistent sind. Dies aber ist durch die erfolgreiche Immunantwort wiederum einem starken Selektionsdruck ausgesetzt - und passt sich in Folge vielleicht erneut an. Jener Prozess lässt sich - rein theoretisch - bis ins Unendliche fortsetzen.
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Selbst innerhalb einer Population zu beobachten
Und selbst innerhalb einer einzigen Fortpflanzungsgruppe funktioniert die Evolution nicht einfach nach dem Prinzip stetiger Verbesserung, wie die beiden Forscher weiter ausführen. Man nehme etwa ein Beispiel aus der Flora: "Der Selektionsvorteil einer bestimmten Baumhöhe beispielsweise hängt von der Höhe der umliegenden Bäume ab", heißt es in "Science".
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Die Spieltheorie als passende Lösung
Nimmt man also jenen Standpunkt ein, so beeinflusst er "nicht nur die Erkenntnis der Evolutionsbiologen, sondern auch ihre theoretischen Hilfsmittel", meinen die beiden Forscher. Die in vielen Fällen passende Lösung wäre demnach die Spieltheorie.

Eine wie auch immer geartete evolutionäre Interaktion von zwei oder mehr Individuen oder Populationen stellt das (biologische) "Spiel" dar. Die "Spieler" verhalten sich entsprechend ihrer Verhaltenscharakteristika, welche die "Strategien" sind.

Die jeweilige in Aussicht stehende Belohnung wird in jene evolutionsbiologisch so wichtige "Fitness" übersetzt. Sie hängt allerdings nicht nur von der eigenen Strategie ab, sondern auch von derjenigen der Mitspieler.
Baumhöhe, Parasitenvirulenz und Co als "Strategien"
Die Höhe eines Baumes, die Bösartigkeit eines Parasiten, die wählerische Art eines Weibchens bezüglich eines Fortpflanzungspartners oder auch als Sexualsignal wichtige Ornamente in Fell oder Federkleid eines männlichen Artgenossen wären nach Sigmund und Nowak solche "Strategien" im Sinne der evolutionären Spieltheorie.

Und tatsächlich gehe die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten, welche die Spieltheorie auf biologische Probleme anwenden, heute bereits in die Tausende, schreiben die beiden österreichischen Forscher - um dann immerhin um die 70 Studien jüngeren Datums bzw. deren Inhalte vorzustellen.
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Spieltheorie historisch: Einführung und Paper in den PNAS
Das Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" hat Anfang 2003 damit begonnen, in den PNAS publizierte Klassiker der Wissenschaftsliteratur in einer eigenen Sektion frei zugänglich zu machen. Dort abrufbar ist mittlerweile auch eine Arbeit des Mathematikers John Forbes Nash, der - im Rahmen der Spieltheorie - das berühmte "Nash Equilibrium" eingeführt hat. Unter dem Titel "The Mathematics of Strategy" beschreibt zudem ein einführender Artikel die Entwicklung der Spieltheorie - Nashs PNAS-Artikel aus dem Jahr 1950 kann als pdf-Dokument heruntergeladen werden.
->   "The Mathematics of Strategy" (www.pnas.org)
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Die Zukunft der evolutionären Spieltheorie
Doch viele Herausforderungen liegen noch vor den Mathematikern und Evolutionsbiologen, meinen Sigmund und Nowak - und verweisen vor allem auf den Bereich der Genetik.

Der Siegeszug der mathematischen Analysemethode sei jedenfalls nicht aufzuhalten. "Die Anwendungen der evolutionären Spieltheorie durchdringen heute alle Gebiete der Biologie", stellen die beiden Forscher abschließend fest.
Die Theorie sei immer dann das angemessene Instrument, wenn der Erfolg eines Individuums auch von anderen abhänge. Wobei sie durchaus zugeben, das es nach wie vor auch Skeptiker gibt. Gelegentlich gebe es immer noch Reaktionen wie "Tiere spielen keine Spiele".

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Homepage von Karl Sigmund (Universität Wien)
->   Homepage von Martin Nowak (Harvard University)
->   Vorlesungsskript zur Spieltheorie (Universität Hohenheim)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Kooperation: Fairness und Vertrauen wird belohnt (14.3.03)
->   Neue Forschungen über kooperatives Verhalten (15.1.03)
->   Festkörperphysik "erklärt" menschliche Kooperation (17.9.02)
->   Alles zum Stichwort Evolution im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010