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Placebo-Chirurgie zum Test von Operationsmethoden  
  Entwickeln Pharmaunternehmen ein neues Medikament gegen eine Krankheit, so muss dieses in einer ganzen Reihe von Studien auf seine Wirksamkeit hin getestet werden - vor allem auch im Vergleich zu bereits existierenden Therapien. Wie aber wird die Wirksamkeit neuer Operationsmethoden festgestellt, bevor diese eingeführt werden? Kontrollierte Studien dazu gebe es viel zu wenige, bemängeln nun deutsche Mediziner - und fordern mehr evidenzbasierte Chirurgie, etwa durch "Placebo-Operationen".  
Was die fünf Mediziner von den Universitäten Heidelberg und Marburg in ihrem "Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie" anregen, klingt für Laien zunächst wohl relativ abwegig:

Ähnlich wie bei klinischen Studien zu neuen Medikamenten sollten auch neue Operationsmethoden etwa anhand von Placebo-Chirurgie überprüft werden, fordern die Wissenschaftler im "Deutschen Ärzteblatt".
Evidenzbasierte Medizin auch in der Chirurgie?
Das Thema der so genannten evidenzbasierten Medizin (EBM) und ihrer Bedeutung auch für die Chirurgie scheint jedoch die Medizin seit geraumer Zeit zu beschäftigen, folgt man den fünf Medizinern.
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Der Artikel "Plädoyer für mehr evidenzbasierte Chirurgie" ist erschienen im "Deutschen Ärzteblatt" (Jg. 101, Heft 6, S. 338-344, vom 6. Februar 2004).
->   Der Artikel im Volltext (www.aerzteblatt.de)
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Strenge Bestimmungen für Medikamente ...
Tatsächlich gelten für neue Arzneimittel und technische Geräte wie Herzschrittmacher strenge gesetzliche Bestimmungen: Umfangreiche Studien müssen Wirkung und Nebenwirkung testen, bevor diese in die klinische Praxis Einzug halten dürfen.
... gelten nicht für Operationsmethoden
Für neue Operationsmethoden gelte dies nicht, heißt es nun in einer Aussendung des Universitätsklinikums Heidelberg.

Hier zähle vor allem der nachträglich gemessene Erfolg, wissenschaftliche Studien hingegen seien in der Chirurgie eine Rarität. Für weniger als 15 Prozent aller Fragen in der Chirurgie sind laut Artikel Daten aus so genannten randomisierten kontrollierten Studien verfügbar.
Vorbehalte gegenüber "Verblindung"
Die Vorbehalte gegenüber der wissenschaftlich fundierten, "evidenzbasierten" Chirurgie seien nach wie vor groß, schreiben nun die fünf Autoren. Kritiker bemängeln demnach beispielsweise die "Verblindung" von Patienten und Ärzten.

Dabei geht es um so genannte Doppelblindstudien, die etwa auch im Rahmen von Medikamenten-Tests durchgeführt werden:

Die Probanden gliedern sich auf in eine so genannte Verum- oder Interventionsgruppe, die mit der Arznei behandelt wird, und in eine Kontrollgruppe, die lediglich ein wirkungsloses Placebo erhält. Weder die Teilnehmer, noch die behandelnden Mediziner sind jedoch über die jeweilige Gruppenzugehörigkeit informiert.
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Placebos wirken im Gehirn - aber anders
Placebos sind Scheinmedikamente, die keine wirksame Substanz enthalten. Das Phänomen, dass sich bei Patienten trotzdem eine Verbesserung einstellen kann - sofern sie glauben, dass sie ein "echtes" Arzneimittel einnehmen - ist in der Medizin als Placebo-Effekt bekannt. Im Durchschnitt verspüren etwa 20 bis 60 Prozent der Probanden nach der Behandlung mit den Scheinmedikamenten eine Besserung ihres Gesundheitszustandes. Bei manchen Patienten treten gar Nebenwirkungen auf.

Eine vergleichende Studie unter Depressiven hat beispielsweise im Jänner 2002 gezeigt, dass sich die Wirkweise eines Placebos stark von derjenigen herkömmlicher Antidepressiva unterscheidet: Beide helfen den Patienten, rufen im Gehirn aber ganz unterschiedliche Reaktionen hervor.
->   Mehr dazu: Artikel vom 2. Jänner 2002
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Verfahren soll Verfälschung der Ergebnisse vermeiden
Dieses Verfahren - eine Zuteilung erfolgt meist zufällig, also randomisiert - soll verhindern, dass das Studienergebnis durch die Information der Probanden und auch der Ärzte beeinflusst wird.
Scheinoperationen als Lösung?
Letztlich müssten, folgt man der Argumentation der Mediziner, neue chirurgische Methoden und selbst ältere Verfahren auf diese Weise überprüft werden.

Mit anderen Worten: Eine bestimmte Anzahl von Patienten müsste sich einer Scheinoperation unterziehen.
"Ethisch und klinisch notwendig"
Dagegen wenden Kritiker ein, solche Scheinoperationen seien ethisch bedenklich - schließlich enthalte man den Patienten möglicherweise wirksame Verfahren vor. Doch die Heidelberger und Marburger Mediziner sehen das anders:

"Placebo-Chirurgie ist ethisch und klinisch notwendig", erklären sie vielmehr. Und führen eine Reihe von Studien als Beweis und Beispiel an, die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden.
Beispiele: Kniegelenkschmerzen ...
Demnach wurde etwa eine solche chirurgische Blindstudie am Houston Veterans Affairs Medical Center bei Patienten mit Kniegelenkschmerzen durchgeführt. Zwei Drittel der Probanden wurden tatsächlich operativ behandelt, beim Rest hingegen der Eingriff - eine so genannte Arthroskopie - nur vorgetäuscht.

Was die Schmerzen nach der tatsächlichen oder vermeintlichen Operation anging, ließ sich offenbar kein Unterschied zwischen beiden Gruppen feststellen.
... und chronische Bauchschmerzen
Ähnliche Ergebnisse erbrachte laut Artikel eine niederländische Studie zur Behandlung chronischer Bauchschmerzen nach chirurgischen Eingriffen. Bei einer Reihe von Patienten lag demnach ein Verdacht auf Verwachsungen im Bauchraum vor, wieder gab es den echten Eingriff sowie die Placebo-Gruppe.

"Das Ergebnis nach einem Jahr ergab für beide Gruppen eine deutliche Verbesserung der Schmerzen und eine Verbesserung der Lebensqualität", berichten nun die Mediziner - "jedoch waren keine relevanten Unterschiede zwischen den Gruppen festzustellen."

Es gibt demnach - ähnlich wie in Medikamentenstudien längst festgestellt - auch einen Placebo-Effekt chirurgischer Eingriffe.
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Beispeil Prostatakrebs: Gleiche Sterberate
Schwedische Urologen haben bereist 1989 und 1999 insgesamt 695 Patienten mit einem Prostata-Karzinom in Rahmen einer Studie untersucht, wie die Autoren weiter berichten: 374 der Patienten wurde die Prostata entfern, bei 348 weiteren wurde kontrolliert abgewartet. Die Gesamtmortalität war nach etwa sechs Jahren gleich, wobei jedoch ein signifikanter Unterschied bezüglich der tumorbezogenen Letalität zugunsten der operierten Patienten festgestellt wurde.

Hinzu kamen allerdings gewisse weitere Unterschiede - so litten etwa in der Gruppe der Operierten deutlich mehr Patienten an erektiler Dysfunktion (80 versus 45 Prozent) oder an Harninkontinenz (49 versus 21 Prozent). "Spielt für einen Patienten die Sexualität eine wichtige Rolle, wäre zum Beispiel von einer operativen Therapie eher abzuraten", folgern die Autoren.
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Welcher Nutzen ergibt sich für Patienten?
Was aber heißt dies letztlich für den Patienten, welchen Nutzen sollte die Evidenzbasierte Medizin (EBM) für ihn haben? "Chirurgie und ihr Erfolg ist nicht nur nach Komplikations- und Mortalitätsraten zu messen", heißt es dazu im "Ärzteblatt".

EBM habe zur Fokussierung auf die Wünsche der Patienten in Zusammenhang mit ihrer Krankheit geführt. Diese könnten damit in Zukunft - auf Basis von Studienergebnissen, wie sie die Mediziner anführen - selbst entscheiden bzw. ihre persönlichen Präferenzen einfließen lassen.
Strukturen fehlen - Haltung der Patienten fraglich
Für die Autoren steht es jedenfalls außer Frage: "EBM in der Chirurgie ist notwendig, um eine Krankenversorgung nach heute bekannten wissenschaftlich hochwertigen Maßstäben durchzuführen", heißt es abschließend.

Noch fehlen dazu allerdings die notwendigen Strukturen - und es stellt sich zudem die nicht unwesentliche Frage, wie aufgeschlossen sich Patienten gegenüber solchen Studien bzw. Scheinoperationen zeigen würden.
->   Klinisches Studienzentrum Chirurgie der Universität Heidelberg
->   Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie Marburg
->   Texte zum Thema EBM in www.medizinalrat.de (Uni Witten/Herdecke)
->   Alles zum Stichwort Placebo in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010