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Dadaismus für die Wissenschaft: Zehnter Todestag von Paul Feyerabend  
  Am 11. Februar 2004 jährt sich der Todestag des österreichisch-amerikanischen Philosophen Paul Feyerabend zum zehnten mal. Zu Lebzeiten galt Feyerabend als das Entfant terrible der Wissenschaftstheorie, da er auf äußerst unkonventionelle Weise gegen die vorherrschende Lehrmeinung seiner Disziplin anschrieb. Bekannt wurde er vor allem aufgrund seines Slogans "Anything Goes", der die Forderung nach Methodenvielfalt in den Wissenschaften ausdrücken sollte.  
"Halten Sie das Maul"
"Herr Feyerabend, entweder Sie halten das Maul oder Sie verlassen den Vorlesungssaal!" Mit diesen Worten versuchte der Wiener Philosophie-Professor Erich Heintel einen jungen Störenfried während der Vorlesung zum Schweigen zu bringen.

Der Student hielt den Mund nicht, weder im Hörsaal, noch in seinem späteren Leben. Seiner Karriere dürfte diese Mentalität jedenfalls nicht geschadet haben. Denn wie auch immer man zu Paul Feyerabends Thesen inhaltlich stehen mag, unterhaltsam waren sie allemal vorgetragen.
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"Anything Goes" im Radio
Dem 10. Todestag des Wissenschaftsphilosophen widmet sich auch die Sendung "Salzburger Nachtstudio" auf Ö1 vom 11.2.2004, 21 Uhr 01.
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
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Werdegang: Wien, London, Berkeley
Feyerabend studierte zunächst Theaterwissenschaften und Soziologie an der Universität Wien, sattelte später auf Astronomie, Physik und Mathematik um und promovierte schließlich im Jahr 1951 mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit bei Victor Kraft.

In den 1950er Jahren studierte er dann einige Zeit bei Karl Popper in London, lehnte später jedoch das Angebot, dessen Assistent zu werden, ab. Im Jahr 1959 erhielt er schließlich selbst eine Professur an der University of California of Berkeley, die er - trotz vieler Turbulenzen - beinahe seine gesamte akademische Laufbahn beibehalten sollte. Gegen Ende seiner Karriere lehrte er an der ETH Zürich.
->   Lebenslauf Feyerabends bei der Stanford Encyclopedia of Philosophy
->   Feyerabend bei Wikipedia
Bruch mit der Tradition: Anti-Regeln statt Regeln
Der gebürtige Wiener stand zunächst in der Tradition der logisch und physikalisch orientierten Wissenschaftstheorie, doch der Bruch mit dieser Schule ließ nicht lange auf sich warten.

Das hatte zunächst fachliche Gründe: Die kritische Maxime der von Karl Popper begründeten Denkschule ("Liberalität gegenüber allen erdenklichen Formulierungen von Theorien - Unerbittlichkeit bei deren empirischer Widerlegung") überwand er, indem die Existenz von methodischen Standards generell verwarf.
Die Unvernunft der Vernunft
In seinem Hauptwerk "Wider den Methodenzwang" argumentierte er, dass die Geschichte der Wissenschaft nicht zwingend als Zuwachs an Rationalität gelesen werden könne, sondern dass sich große Entdeckungen oftmals über den Umweg der Unvernunft behaupteten.

So konnte er etwa zeigen, dass Galileo Galilei die methodologischen Regeln der damaligen Wissenschaft klar verletzte - ein Verhalten, das diesem gemäß der traditionellen Ansicht das Prädikat "unwissenschaftlich" eingebracht hätte.
->   Auszüge aus "Against Method"
Voodoo, Astrologie und Wissenschaft
Feyerabend behauptete dagegen, dass es keine fixen Regeln für wissenschaftliches Agieren gebe.

Dabei ging er so weit, die Vorrangstellung der wissenschaftlichen Vernunft zu untergraben, indem er ihr etwa Voodoo, Astrologie oder Gesundbeten als gleichberechtigte Lebens- und Erkenntnisformen gegenüber stellte.
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Zitat
In einem Brief an seinen Freund Hans Albert aus dem Jahr 1969 beschrieb er seine "anarchistische Erkenntnistheorie" folgendermaßen: "Anarchismus heißt also nicht: überhaupt keine Methoden, sondern alle Methoden, nur unter verschiedenen Umständen angewendet ... Und wenn du mich fragst, ob es allgemeine Regeln gibt, die es uns gestatten zu entscheiden , wann welche Methode angewendet werden muss, dann sage ich nein, denn die Richtigkeit des Vorgehens stellt sich oft erst hinterher heraus."
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Pragmatische Wende und Provokation

Das Enfant terrible in Pose.
Diese mitunter sehr aufreizend geführte Kritik an der vielgerühmten Rationalität unterschied ihn auch von seinen Philosophen-Kollegen Imre Lakatos, Thomas Kuhn und Stephen Toulmin, mit denen er die so genannte pragmatische Wende der Wissenschaftstheorie eingeleitet hatte.

Feyerabend war eben nicht nur ein Mann der Argumente, sondern auch des Happenings - und vor allem: der Provokation.
->   Feyerabend Forum im WWW
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Zitat
"Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig, wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten."
Brief an Hans Albert, 1970

"Ich scheiße auf die Wahrheit, was immer das ist. Was wir brauchen ist Gelächter."
Brief an Imre Lakatos, 1971
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"Instinktive Aversion gegen Gruppendenken"
Eine wichtige Rolle bei dieser oppositionellen Haltung gegenüber dem akademischen Establishment dürfte auch seine "fast instinktive Aversion gegen Gruppendenken" gespielt haben, wie er in seiner Autobiografie "Zeitverschwendung" festhielt.

Reibebaum Nummer eins war für ihn dabei sein ehemaliger Lehrer Karl Popper, der - so Feyerabends Kritik - seine Ansichten mit quasireligiösem Dogmatismus verbreitet habe.
->   Feyerabend Links (Univ. Exeter)
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Zitat
"Ich vertrete hier, wo man die Universität in eine neue Kirche verwandeln will, ... die ganz andere Auffassung, dass die Universität ein intellektueller Supermarkt ist, wo der reife Student herumwandelt und aufgreift, was ihm gefällt."
Brief an Hans Albert, 1968
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"Die Klosettmuschel der Wissenschaft"
Der humorlosen, normativen Wissenschaftslehre hielt der späte Feyerabend eine pluralistische Weltsicht entgegen, die sich am Duchampschen Dadaismus orientierte:

"Der Anarchismus unterscheidet sich vom Dadaismus dadurch, dass der letztere mehr Humor hat. Auch verstand der Dadaist, die ernste Kunst aus ihrem Schlummer zunächst zum Ärger zu erwecken: indem er die Klosettmuschel zum Kunstwerk erhebt, kritisiert er die ernste Kunst und verärgert ihre Vertreter maßlos."

"Mein Ziel ist nun eine dadaistische Kritik der Wissenschaft zu schreiben, und nichts würde mir mehr Freude machen, als den der Klosettmuschel entsprechenden Gegenstand in der Wissenschaft zu finden."
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Zitat
Dementsprechend bunt fiel auch Feyerabends Themenwahl aus: "Am Institute for Technology in Georgia hielt ich einen Vortrag über die zivilisierende Funktion der Prostitution und die antihumanitäre Funktion der Wissenschaft, in Mittelschulen hielt ich Vorträge über Hexen und Atome (erstere sicher existierend, die zweiten zweifelhaft)..."
Brief an Hans Albert, 1970
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Briefwechsel gibt Einblick

Bild aus Feyerbands Autobiografie. Untertitel: Der "Philosoph" bei der Arbeit
Was Feyerabend auch heute noch besonders lesenswert macht, ist nicht nur sein fachbezogenes Werk.

Insbesondere seine umfangreiche Korrespondenz sowie die gegen den Strich gebürstete Autobiografie weisen den österreichisch-amerikanischen Philosophen als intellektuellen Weltenbummler mit einem Faible für Popkultur, Wrestling und anzügliche Postkarten aus.

Briefkuverts an den Popperianer Hans Albert wurden da schon mal mit folgender offiziellen Anrede versehen: "An den fast schon in der Ruhe des Denkens sich befindenden Geheimen Hofrat und Professor der Popperschen Afterphilosophie."
Die Message findet der Leser
Böse gemeint waren solche Zoten wohl nicht, sondern vielmehr Ausdruck einer ironischen Grundhaltung. Welche seiner Aussagen nun mit Augenzwinkern oder doch mit Ernsthaftigkeit zu lesen seien, überließ er ohnehin immer dem Leser.

In dieser Hinsicht hielt er es gerne mit Marcel Proust: "Ein Buch mit einer Message ist wie ein Geschenk mit einem Preiszettel daran."

Robert Czepel, science.ORF.at
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Literaturtipps
Paul Feyerabend. Briefe an einen Freund (hrsg. v. Hans Peter Duerr), Suhrkamp
Paul Feyerabend, Hans Albert. Briefwechsel (hrsg. v. Wilhelm Baum), Fischer
For and Against Method: including Lacatos's Lectures on Scientific Method and the Lakatos-Feyerabend Correspondence (hrsg. v. Matteo Motterlini), Univ. Chicago Press
absolute Paul Feyerabend (hrsg. v. Malte Oberschelp), orange-press
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->   Mehr zu Karl Popper im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010