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Hirnforscher: Auch Sehen will gelernt sein  
  Durch die Vernetzung von Nervenzellen in den höheren kognitiven Hirnregionen können wir lernen und uns erinnern - dank der neuronalen Plastizität bis ins hohe Alter und immer wieder aufs Neue. Doch auch die Wahrnehmung will gelernt sein, wie nun deutsche Forscher berichten: Sie zeigen, wie das wiederholte Beobachten das Erkennen begünstigt - und wie das Gehirn diese Verbesserungen koordiniert.  
Ihre Ergebnisse stellten Gregor Rainer und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik im Open Access-Journal "Public Library of Science - Biology (PLoS Biology)" vor.
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Die Studie "The Effect of Learning on the Function of Monkey Extrastriate Visual Cortex" ist in "PloS Biology" (Bd. 2, Ausgabe vom 17. Februar 2004; DOI: 10.1371/journal.pbio.0020044) erschienen.
->   Die Studie
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Von niederen zu höheren Gehirnarealen
Bild: Klaus Lamberty/MPI für biologische Kybernetik
Visuelle Signale, so die Forscher, werden zunächst von den Augen zur primären Sehrinde (V1) geleitet und von dort dann an nahe gelegene, "niedere" visuelle Verarbeitungsregionen (z.B. Areal V4) gesendet, die an der visuellen Merkmalsverarbeitung beteiligt sind. Gemeinsam bilden diese Gehirnregionen die so genannten "Sehareale" (siehe Abbildung rechts: das größere ist ein menschliches Gehirn, das kleinere stammt von einem Makaken).

Von diesen Seharealen aus werden die visuellen Signale an "höhere" kognitive Hirnareale im Temporal- und Frontallappen weitergeleitet, die an der Repräsentation von Dingen und Personen beteiligt sind und deren Verletzung dazu führt, dass wir Gegenstände oder Personen nicht mehr erkennen können.
Lernen verändert neuronale Vernetzung ...
Inzwischen weiß man, dass Lernen im erwachsenen Alter die Aktivität und die Vernetzung von Neuronen in den höheren Gehirnarealen verändert. Man nimmt an, dass diese neuronalen Veränderungen die interne Repräsentation gelernter Inhalte darstellen. Hingegen glaubte man lange Zeit, dass sich die Eigenschaften der Sehareale selbst im erwachsenen Alter nicht mehr verändern.
... das gilt auch für das Sehen
Zwar gibt es seit einiger Zeit erste Hinweise, dass ich die Sehareale ebenfalls beim Lernen verändern, aber welches Ausmaß und welche Verhaltensrelevanz diese Lerneffekte haben, wird immer noch kontrovers diskutiert.

Gregor Rainer und seine Kollegen haben jetzt nachgewiesen, dass das Lernen tatsächlich auch die Aktivität der sensorischen Gehirnareale stark beeinflusst.

Um diese Lerneffekte empirisch untersuchen zu können, hatten die Kognitionsforscher Affen trainiert, bestimmte Naturmotive auch noch in Computerbildern zu identifizieren, die in unterschiedlichem Maße unkenntlich gemacht worden waren.
Verschieden verschwommene Bilder
 
Bild: Robert Shallenberger/US Fish and Wildlife Service

Die Forscher zeigten den Affen am Monitor verschiedene Naturbilder, darunter auch von Vögeln und Menschen, in unterschiedlich stark verschwommenen Versionen. Die Affen sahen ein bestimmtes Bild und signalisierten dann, ob ein zweites Bild, dass ihnen kurze Zeit später gezeigt wurde, mit dem ersten übereinstimmte oder nicht.

Im Beispiel oben das natürliche Bild eines Löwen (rechts), das mit visuellem Rauschen (links) vermischt wurde, um eine verrauschte, schwer erkennbare Version des natürlichen Bilds (siehe Mitte bzw. Titelbild der Zeitschrift) herzustellen.
Verrauschte Bilder führten zu höher Neuronen-Aktivität
Parallel dazu wurde immer die Aktivität der V4-Neuronen gemessen. Hierbei stellte sich heraus, dass sich bei neuen bzw. unverrauschten Bildern die Aktivität der Neuronen kaum veränderte, während diese stark zunahm, wenn verrauschte Bilder gezeigt wurden. Die Wahrnehmung der teilweise unkenntlichen Bilder verbesserte sich, während zugleich die Aktivität und der Informationsgehalt von V4-Neuronen zunahm.
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Augenbewegungen verraten Aufmerksamkeitsleistung
Um herauszufinden, wie die einzelnen V4-Neuronen konkret die Fähigkeit verbessern können, die verrauschten Bildmotive zu erkennen, gingen die Wissenschaftler noch einen Schritt weiter. Nachdem sie eine Gruppe von Neuronen identifiziert hatten, die in Reaktion auf verrauschte Stimuli stärker feuerten, untersuchten sie die Augenbewegungen der Affen, um herauszufinden, auf welche Weise die Affen ihnen bereits bekannte Motive in verrauschten Bildern wieder erkennen können.

Hierbei zeigte sich, dass die Augenbewegungen nach dem Lernen wesentlich stärker bei den Original- und den dazu gehörigen verrauschten Bildern überlappten. Die Affen hatten also gelernt, ihre Aufmerksamkeit auf besonders herausragende Eigenschaften der Bilder zu konzentrieren und auf diese Weise auch die verschwommenen Versionen der Originalbilder zu erkennen.
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Neuronen koordinieren verschiedene Gehirnregionen
Die Untersuchungen belegen, dass sich das Erkennen vage definierter Bilder durch das Lernen erheblich verbessert, und dass diese besseren Leistungen direkt mit Neuronen im Sehareal V4 in Verbindung stehen. Diese Neurone kompensieren undeutliche visuelle Inhalte, indem sie verschiedene Gehirnregionen miteinander koordinieren, was zu einer lernabhängigen Zunahme der Information über visuelle Inhalte im Sehareal V4 führte.
Für besseres Erkennen
Neuronen im Sehareal V4 tragen also entscheidend dazu bei, die Unbestimmtheit von Wahrnehmungsinhalten aufzulösen. Sie interagieren dabei mit höheren Gehirnregionen, damit uneindeutige Bilder richtig interpretiert werden können.
Lernen bereits auf "niedriger" Hirnebene entscheidend
Diese Befunde belegen, dass Lernen auch in den "niederen" Seharealen zu Veränderungen des Informationsgehalts und der Aktivität von Neuronen führt. Sehen und Erkennen ist ein dynamischer Prozess, folgern Rainer und seine Kollegen in der Aussendung der Max-Planck-Gesellschaft, der durch die Interaktion zwischen "niederen" sensorischen Regionen und dem Feedback aus "höheren" kognitiven Hirnarealen gekennzeichnet ist.

Dazu werden die kontinuierlich auf der Netzhaut ankommenden Signale mit den Erwartungen und Erfahrungen des Gehirns verrechnet. Diese Integration zwischen Input und Erwartungen findet bereits in den "niederen" Seharealen statt - wir sehen folglich das, was wir gelernt haben zu erkennen.
Literatur-Tipp

Der Einfluss der Erfahrung auf die Wahrnehmung wurde in dem Standardwerk "Why We See What We Do" von Dale Purves und R. Beau Lotto eingehend beschrieben.
->   Das Buch auf Dale Purves Website
->   Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Aktuelles zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Das Gehirn kann auch noch im Alter wachsen (10.1.04)
->   Hirnforscher: Übung macht den Meister (11.6.03)
->   Im Netzwerk der Erinnerung (30.10.03)
->   Wie die Nase lernt, Gerüche wahrzunehmen (24.10.03)
 
 
 
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01.01.2010