News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Evolution des Gehirns: Früher als gedacht?  
  Vor einigen Millionen Jahren trennten sich die Abstammungslinien von Mensch und Affe endgültig - doch unsere Vorfahren brauchten noch eine Zeitlang, um ihre Verwandten vor allem hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten endgültig zu überholen. Die offene Frage: Wann und wie begann jener Prozess, in dessen Verlauf das (menschliche) Gehirn nicht nur größer wurde, sondern auch einige andere Unterschiede zum Affen entwickelte. Die Diskussion erhält nun neue Nahrung durch eine Studie, die bereits ganz spezifische neurologische Veränderungen bei unseren frühen Vorfahren - den Australopithecinen - nachweisen will.  
Damit könnten die Forscher auch einem berühmten Kollegen zu später Ehre verhelfen, denn der Anthropologe Raymond Dart hatte Ähnliches bereits 1925 vorgeschlagen. Doch die Fachwelt stand seiner These damals äußerst skeptisch gegenüber. Die Studie ist im Fachmagazin "Comptes Rendus Palevol" erschienen.
...
Der Artikel "Posterior lunate sulcus in Australopithecus africanus: was Dart right?" ist am 28. Jänner online in "Comptes Rendus Palevol" erschienen (doi:10.1016/j.crpv.2003.09.030).
->   Abstract des Artikels im Internet
...
Schimpanse als nächster Verwandter des Menschen
Mensch und Affe sind - soviel weiß man aus dem Biologieunterricht - sozusagen entfernte Verwandte: Sie teilen sich gemeinsame Vorfahren und zudem einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Gene - beim Schimpansen etwa beträgt die Übereinstimmung annähernd 99 Prozent.

Doch selbst dieser nächste Verwandte des Homo sapiens unterscheidet sich körperlich und geistig ganz enorm vom modernen Menschen. Ausschlaggebend ist dabei weniger das Erbgut als vielmehr die so genannte Genexpression im Gehirn beider Arten, wie man mittlerweile weiß.
->   Mehr dazu: Was den Menschen zum Menschen macht (11.4.02)
Wann begann die (Weiter)Entwicklung des Gehirns?
Wann aber hat bei einem Vorfahren des modernen Menschen jene Entwicklung begonnen, die - neben den offensichtlichen äußeren Unterschieden - zu unserem heutigen komplexen und hochorganisierten Denkorgan führen sollte?

Viel früher als man bislang dachte, sagen nun die Forscher um Ralph L. Holloway vom Department of Anthropology der Columbia University in New York.
Lehrmeinung: Größe vor Reorganisation
Als entscheidend gilt vielen Wissenschaftlern die Größe: Erst das Wachstum des Gehirns hätte demnach den Graben zwischen Mensch und Affe ausgeweitet - und somit die Entwicklung zum vielfach begabten Menschenvorfahren, der von Afrika aus die Welt besiedelte, eingeleitet.
Darts Vorstoß - keine Begeisterung in der Fachwelt
Doch es gibt dazu auch andere Meinungen. Tatsächlich hat bereits 1925 der südafrikanische Anthropologe und Anatom Raymond Dart im Fachmagazin "Nature" einem Australopithecus africanus-Schädel bestimmte "moderne" Merkmale zugesprochen.

Doch Dart erntete mit seiner Analyse eines Schädelfundes ("Kind von Taung") - von ihm stammt im Übrigen auch die Bezeichnung Australopithecus africanus - wenig Anerkennung in der Fachwelt.

Zum damaligen Zeitpunkt wurde selbst die heute längst weithin anerkannte Zuordnung des Australopithecus in die Reihe der menschlichen Vorfahren als abwegig zurück gewiesen. Hauptkritikpunkt: Das Gehirn sei viel zu klein.
->   Genaueres zu Raymond Dart und dem "Kind von Taung"
...
Der Mensch: Einziger Überlebender der Hominiden
Der moderne Mensch ist als einzige heute lebende Art übriggeblieben aus der weitverzweigten Familie der Hominiden. Die Evolutionsgeschichte des Homo sapiens ist allerdings längst nicht lückenlos. Als wahrscheinlich gilt jedoch, dass tatsächlich Afrika die vielbeschworene "Wiege der Menschheit" war: Mit dem Australopithecus, dem Affenartigen, begann dort vor etwa 4,2 Millionen Jahren unsere Entwicklung, vor etwas mehr als zwei Millionen Jahren tauchte der Homo erectus auf und schließlich - vor rund 150.000 Jahren - der Homo sapiens. Nach der populären "Out-of-Africa"-Theorie stammen alle modernen Menschen von afrikanischen Vorfahren ab, die in die ganze Welt strömten. Zunächst wurden demnach Europa und Asien besiedelt, danach auch Amerika und Australien.
...
Gummi-Abdruck des Schädelinneren ...
Holloway und Kollegen haben sich nun ebenfalls eines in Südafrika gefundenen Australopithecus-Schädels angenommen. Genauer gesagt: Ihr Studienobjekt war "Stw 505", der in den 1980ern in den so genannten Sterkfontein-Höhlen gefunden wurde.

Ihre Untersuchungsmethode klingt zunächst allerdings wohl etwas seltsam: Die Forscher stellten nämlich einen Abdruck von dessen Innenseite her, indem sie eine Art Gummi in mehreren Schichten auftrugen und diesen Guss schließlich herauslösten, wie BBC Online meldete.
... soll anatomische Besonderheiten zeigen
Ihr Ausgangspunkt: Gewisse anatomische Besonderheiten des Gehirns, das natürlich im Falle jenes Australopithecus-Schädels längst zu Staub zerfallen ist, lassen sich auch anhand von Strukturen im Knochen erkennen.

Und: Abgesehen von der Größe gleichen sich die Gehirne von Mensch und beispielsweise Schimpanse zwar stark. Einige Abweichungen gibt es aber doch - darunter die Position des primären visuellen Cortex (PVC), welcher der Verarbeitung von Seheindrücken dient.
Größe und Lage des PVC entscheidend

Dessen Abmessungen bzw. Lage im Gehirn lassen sich demnach bei einigen Affenarten anhand einer gewölbten Furche im Schädel erkennen, einem so genannten Sulcus. Hinzu kommt, dass der PVC im Gehirn der Tiere weiter vorne sitzt und zudem größer als beim Menschen ist.

Der gängigen Theorie zufolge verrutschte und schrumpfte der PVC allerdings erst, nachdem das Gehirn insgesamt deutlich gewachsen war. Dies wäre demzufolge erst mit der Gruppe Homo der Fall gewesen, die nach dem Australopithecus entstand.

Die Wissenschaftler um Ralph Holloway kommen nun jedoch mithilfe ihres Gehirn-Abgusses zu dem Schluss, dass im Fall von "Stw 505" der PVC - ähnlich wie beim modernen Menschen und anders als bei den meisten Affen - weiter hinten im Gehirn gelegen heben muss.

Rechts im Bild zu sehen ist der Abdruck, den Holloway und Kollegen vom Schädel gemacht haben.
Hirn-Evolution begann schon beim Australopithecus
Dies deutet nach Meinung der Forscher darauf hin, dass sich schon die Gehirne der Australopithecinen in Richtung "cerebraler Moderne" entwickelten.

Denn wenn die Positionsbestimmung stimmt, "dann durchlief der cerebrale Cortex irgendeine Form der neurologischen Reorganisation vor der Vergrößerung des Gehirns", schreiben die Forscher in ihrem Artikel. Und dies hätte sich demnach noch vor dem Erscheinen der Gattung Homo ereignet.
->   Mehr zu den Australopithecinen (www.wissenschaft-online.de)
Freies Volumen für andere Gehirnregionen
War der PVC jedoch bereits kleiner als beim Affen, so könnte die davor liegende Gehirnregion jenes freigewordene Volumen übernommen haben. Und jener Bereich der Großhirnrinde wird beim Menschen mit komplexen kognitiven Fähigkeiten in Verbindung gebracht, wie Holloway und Kollegen berichten.

"Ich würde spekulieren, dass die Australopithecinen dabei waren, ihre ökologische Nische auszuweiten - in etwas, das über Blätter und Früchte hinaus ging", zitiert BBC Online Studienleiter Holloway.

"Das frühe Hominiden-Gehirn war spätestens zur Zeit des Australopithecus africanus reorganisiert", heißt es schließlich in "Comptes Rendus Palevol". Damit aber werde auch Raymond Darts frühe Einschätzung rechtfertigt.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Department of Anthropology der Columbia University in New York
Mehr zu diesem Thema im science.ORF.at-Archiv:
->   Mensch: Langes Leben dank großem Gehirn? (16.7.02)
->   Steinzeitliche Mustersuche im modernen Gehirn (10.4.02)
->   Homo Erectus: Weltweiter Urahne des Menschen (21.3.03)
->   Alles zum Stichwort Gehirn im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010