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Durstfreie Operation: Trinken bis kurz vor dem Eingriff  
  In den meisten europäischen Ländern gilt nach wie vor als klare Regel: Vor einer Operation sollte der Patient möglichst völlig nüchtern sein. Auch die Flüssigkeitsaufnahme wird daher mehrere Stunden vor dem Eingriff untersagt. In Skandinavien dagegen hat sich die Situation gewandelt. Getränke werden dort bis relativ kurz vor der Operation noch gestattet. Zum großen Nutzen der Patienten, wie deutsche Mediziner nun betonen, die jene Richtlinie auch im Nachbarland umsetzen möchten.  
"Dies ist ein Dogma, das sich auf Studien aus den Jahren 1848 und 1942 stützt", erklärt dazu Ulrich Kampa, Oberarzt des Akademischen Lehrkrankenhauses im deutschen Hattingen. Doch es sei durch viele Untersuchungen widerlegt.
Änderung mit "extrem positiven Ergebnissen"
An der Klinik dürfen die Patienten denn auch bis zwei Stunden vor der Operation noch Flüssigkeit zu sich nehmen - mit "extrem positiven" Ergebnissen, wie der Mediziner gegenüber science.ORF.at erklärt.

Kampa gehört einer Expertengruppe an, die jene Operations-Leitlinien im Nachbarland ändern will.
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Hintergrund: Angst vor Erbrechen des Patienten
Hintergrund jener "Regelung" ist die Sorge der Anästhesisten, der Patient könnte sich unter Narkose erbrechen und etwas vom Erbrochenen gelänge dann - wegen eingeschränkter bzw. fehlender Schluckreflexe - über die Atemwege in die Lunge. Mediziner sprechen hier von Aspiration. Tatsächlich können Magensaft oder Bakterien das Atmungsorgan schädigen und eine Lungenentzündung verursachen. Im schlimmsten Fall stirbt der Patient daran.
->   Mehr zur Entstehung von Lungenentzündungen (www.netdoktor.de)
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Derzeit: Möglichst nüchtern vor der OP
Wer schon einmal eine Operation inklusive Narkose über sich ergehen lassen musste, kennt die Regelung: Steht man am Morgen als einer der ersten Patienten auf der OP-Liste, dann findet die letzte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme meist am Abend zuvor statt.

In Österreich etwa gilt für (erwachsene) Patienten im Normalfall: Das letzte Getränk sollte maximal vier Stunden vor dem Eingriff konsumiert werden.
Klare Flüssigkeit noch zwei Stunden vorher
Doch Intensivmediziner und Anästhesist Ulrich Kampa will diese Leitlinien nun - in Deutschland zumindest - ändern lassen. An seiner Klinik dürfen die Patienten bereits seit April 2003 routinemäßig bis zwei Stunden vor der angesetzten Operation noch "klare Flüssigkeit" zu sich nehmen, wie er sagt.

Das heißt: Wasser, Tee, Fruchtsaft ohne Fruchtfleisch sowie Kaffee sind auch dann noch erlaubt. Außerdem gilt in seiner Klinik: Die Patienten erhalten so bald wie möglich nach dem Eingriff wieder feste Nahrung.
Grundlage: Skandinavische Untersuchungen
Die Mediziner berufen sich dabei auf skandinavische Untersuchungen. Anfang der 90er Jahre hatte man sich dort die grundlegende Literatur genauer angesehen, wie Ulrich Kampa erzählt - und kam zu dem Schluss, dass das Risiko durch die längere Flüssigkeitsaufnahme gering sei, der Vorteil für den Patienten jedoch enorm.

Mittlerweile hat man in Skandinavien die diesbezüglichen Richtlinien längst geändert. Und auch in Großbritannien und in den USA ist man dem Beispiel gefolgt, wie Kampa gegenüber science.ORF.at erzählt.
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Analyse der Daten ergab: Kein höheres Risiko
Nach Angaben des Intensivmediziners Kampa hat man in den skandinavischen Ländern die Daten nach Einführen der neuen Operationsleitlinien erneut verglichen. Das Ergebnis zeigte demnach kein höheres Risiko für den Patienten: "Das Auftreten des Erbrechens war nicht verändert", so Kampa. Tatsächlich geht man davon aus, dass klare Flüssigkeit (Milch gehört beispielsweise nicht dazu) nach 90 Minuten den Magen bereits wieder verlassen hat.
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Stoffwechsel reagiert auf jede Operation
Worin aber liegt der Nutzen für den Patienten - abgesehen davon, dass die Tasse Kaffee am Morgen für viele einfach dazu gehört und damit natürlich das allgemeine Wohlbefinden steigert?

Ein chirurgischer Eingriff bedeutet für den Körper eine Verletzung. Der Körper reagiert entsprechend - und zwar mit einer Veränderung des Stoffwechsels, wie Kampa erläutert. "Je größer die Operation, desto ausgeprägter die Reaktion", so der Mediziner.

Im Grunde handele es sich dabei um eine Entzündungsreaktion des Organismus - ganz egal, ob Herzinfarkt, Schlaganfall oder auch eine Operation der Auslöser sind.
Höherer Blutzuckerspiegel als Folge
Genau gesagt bewirkt diese Stoffwechselveränderung einen Zustand, den Mediziner als "periphere Insulinresistenz" bezeichnen.

"Der Zucker bzw. Energie wird für die lebenswichtigen Organe wie Herz oder Gehirn gebraucht", beschreibt der Anästhesist die Situation. Daher ziehe der Körper den Zucker im Blut zusammen - als Folge aber erhöht sich der Blutzuckerspiegel.
Höhere Infektanfälligkeit durch Hyperglykämie
Für Betroffene erhöht sich damit allerdings auch die Infektanfälligkeit nach der Operation ganz enorm. Genau hier setzen die Mediziner nun an: Hat man bislang etwa Insulin nach der Operation gegeben, um jene negativen Effekte zu behandeln, plädieren sie nun dafür, die Stoffwechselveränderung bereits im Vorfeld zu minimieren.

Denn nimmt der Patient relativ kurz vor dem Eingriff noch Zucker zu sich, so ist die so genannte Hyperglykämie (der erhöhte Blutzuckerspiegel) nachher nicht so ausgeprägt und das postoperative Infektionsrisiko geringer.

Eine Methode, die Kampa und Kollegen daher auch anwenden: die Verabreichung einer speziellen hochkonzentrierten Zuckerlösung vor einer Operation. Der Zucker im Blut wirkt damit nach der Operation schneller, das Risiko einer Infektion sinkt.
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Ein Problem: Mangelernährung von Patienten
Ulrich Kampa verweist in diesem Zusammenhang auch auf Studien, die einem sehr großen Teil von Patienten Mangelernährung attestiert haben. Das heißt: Jene Personen kommen bereits mit Vitamin- oder Eiweißmangel in die Krankenhäuser - ganz offensichtlich keine ideale Situation für einen chirurgischen Eingriff.
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Patienten wacher, fitter und schneller mobil
Die Ergebnisse scheinen Ulrich Kampa und seinen Kollegen jedenfalls recht zu geben: Sie seien "extrem positiv" gewesen, sagt der Intensivmediziner.

Ganz allgemein berichtet er, dass bei den Patienten Symptome wie Angstgefühlte vor und nach dem Eingriff sowie Mattigkeit geringer waren. Die Operierten seien wacher, fitter und deutlich schneller wieder mobil.

Kurz gesagt: Die Komplikationsrate steigt durch die Änderung nicht und den Patienten geht es zudem besser.
Normale Ernährung möglichst dicht an OP
"Wir versuchen, die normale Ernährung möglichst dicht an die Operation heranzuführen", betont Kampa abschließend.

Die Regelung für feste Nahrung vor dem chirurgischen Eingriff wird davon im Übrigen nicht betroffen. Hier gilt nach wie vor: Sechs Stunden vor der Operation darf der Patient das letzte mal essen. Das allerdings gesteht Kampa selbst jenen zu, die sich einer großen Darmoperation unterziehen müssen.
->   Evangelisches Krankenhaus Hattingen
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Spezialnahrung gegen Komplikationen nach OPs (11.9.02)
 
 
 
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01.01.2010