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Zur Aktualität der Religionsphilosophie Kants  
  Im Kant-Jahr 2004 trafen sich vom 4. bis 6. März Experten aus aller Welt in Wien, um die Bedeutung des Königsberger Aufklärers für die Philosophie der Gegenwart zu erörtern. Zum Auftakt beschäftigte sich Jürgen Habermas, der bedeutendste deutschsprachige Philosoph der Gegenwart, am Donnerstagabend mit der Aktualität und Wirkungsgeschichte der Religionsphilosophie Kants. Sein Resümee: Der normative Gehalt der Moderne wird heute von Fundamentalismen aller Art bedroht - aber auch von den "Entgleisungen" der Moderne selbst.  
Weltklasse-Philosoph in einer anderen Zeit
Der Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) Herbert Matis ließ es sich in seiner Begrüßungsrede des Symposions nicht nehmen, einen Seitenhieb auf die Wissenschaftspolitik der Gegenwart zu machen.

Kant, so Matis, hätte nach heutigen Kriterien "einer Weltklasse-Uni" - Auslandserfahrungen, Publikation in internationalen Journalen, Evaluationen u.a. - kaum auf eine akademische Karriere hoffen dürfen.
Scharfsichtiger Denker menschlicher Endlichkeit
Glücklicherweise hat er sie vor mehr als 230 Jahren als Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg aber doch angetreten. Die Symposions-Veranstalterin und Philosophin Herta Nagl-Docekal von der Uni Wien nannte ihn einen "scharfsichtigen Denker menschlicher Endlichkeit".

Rudolf Langthaler führte mit einer Selbstbeschreibung Kants als Mensch "zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz" bereits mitten hinein in das Thema Religionsphilosophie - dem sich Jürgen Habermas im Anschluss widmete.
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Kant-Symposion
Anlässlich des 200. Todestages von Immanuel Kant fand vom 4. bis 6. März 2004 in Wien das internationale Symposion "Immanuel Kant: Recht-Geschichte-Religion" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften statt.
->   Mehr über das Symposion (ÖAW)
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Bedeutung und Wirkungsgeschichte
Der religiöse Fundamentalisus, "den wir heute nicht nur außerhalb des Christentums beobachten", beschert laut Habermas der Kantschen Religionskritik traurige Aktualität. Aus diesem Grund hat er aus dem Titel des Symposions "Recht-Geschichte-Religion" zum 200. Todestag des Königsberger Philosophen auch die genauere Beschäftigung mit dem letzteren Begriff gewählt.

Im mehr als gut besuchten Festsaal der Akademie beleuchtete er die gegenwärtige Bedeutung der Religionsphilosophie Kants und streifte auch seine Wirkungsgeschichte.
Religion von Schwärmerei reinigen
Kants Religionsphilosophie ist von einer doppelten Strategie gekennzeichnet. Kant tritt, so Habermas, "der Religion als Erbe und als Opponent entgegen". Er wollte sie "von Schwärmerei und Obskurantismus reinigen" und die "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" verorten, wie das entsprechende Werk dann auch hieß.

Diese Zähmung der Religion durch Vernunft sei keine Sache der philosophischen Selbsttherapie, sondern soll vor "zwei Arten des Dogmatismus schützen": vor der Autorität der Kirche und religiöser Orthodoxie, "die natürliche Grundsätze der Sittlichkeit zur Nebensache macht", sowie vor dem "aufgeklärten Defätismus des Unglaubens".
Unter die Vorherrschaft der Vernunft
Bild: dpa
"Religionskritik und rettende Aneignung" nennt Habermas Kants Projekt, Religion unter die Vorherrschaft der Vernunft zu stellen, Gott als regulative Idee der Vernunft und die Pflichten des Menschen als göttliche Gebote zu verstehen. Religion deckt sich inhaltlich mit der Moral. "Es ist nur eine wahre Religion, es kann aber viele Arten des Glaubens geben", so Habermas Kant zitierend.

Alles, was der Mensch außer gutem Lebenswandel, Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist Kant zu Folge bloßer Wahn - "Afterdienst", wie er das nannte: etwa religiöse Organisation, Institution und bloß äußerliche Religionsausübung. Kein Wunder, dass dies Kant auch Ärger mit der preußischen Staatsgewalt eingebracht hat.
Zweck: Die moralische Verbesserung der Menschen
Habermas verwies auf die anthropozentrische Grundlage der Kantschen Vernunftreligion: Zweck aller Vernunftreligionen sei die moralische Verbesserung der Menschen.

Die Kirchenreligion - also die historisch von Kant vorgefundene - sei "Vehikel der Vernunftmoral". Dieses Vehikel, die Bilder der Kirchenreligion brauche der Mensch wegen seiner "schwachen Natur" als "Veranlassungen für moralische Vernunft".
Ethisches Gemeinwesen als Ziel
Kant, so Habermas, übersetzt die unsichtbare Kirche in ein ethisches Gemeinwesen. Ziel sei eine kumulative Anstrengung der gesamten Menschheit zu moralischem Handeln. Dann aber, so kritisierte Habermas, ist Kirchenreligion mehr als bloßes Vehikel, sondern "eine historische Quelle der Inspiration, aus der die praktische Vernunft im Hinblick auf die Bestimmung des Endzwecks vernünftiger Weltwesen schöpfen muss".

Das historische Ziel der Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen gehe über den Inhalt moralischer Gesetze aber hinaus.
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200-jährige Wirkungsgeschichte
Aus Zeitmangel fiel der Überblick über die 200jährige Wirkungsgeschichte der Kantschen Religionsphilosophie summarisch aus - und wagte sich auch nicht über das 19. Jahrhundert hinaus. Habermas berührte die "drei wirkungsmächtigsten Figuren" der Rezeption Hegel, Schleiermacher und Kierkegaard, und hob zudem den Neukantianer Hermann Cohen hervor, der die Kantsche Vernunftreligion für seine Auslegung der literarischen Quellen der jüdischen Tradition verwendete und die Gleichrangigkeit des Judentums mit dem Christentum betonte.
->   Das science.ORF.at-Archiv zu Jürgen Habermas
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Ökonomie-Imperative, Biotech: Moderne in Gefahr
Der normative Gehalt der im Westen aus Säkularisierung entstandenen Moderne - charakterisiert mit den Begriffen Hegels von "Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung" - sei heute bedroht, so Habermas in seinen Ausführungen zur Gegenwart.

Bedroht nicht nur von Außen - durch eine fundamentalistische Gegenmoderne - sondern auch von Innen durch eine "entgleisende Modernisierung" selbst. Die Arbeitsteilung zwischen den integrativen Mechanismen des Marktes, der Bürokratie und der gesellschaftlichen Solidarität sei aus dem Gleichgewicht geraten und habe sich zugunsten wirtschaftlicher Imperative verschoben.

Neue Technologien, "die tief in die bisher als natürlich angesehenen Substrate der menschlichen Person eingreifen", förderten ein naturalistisches Selbstverständnis der Subjekte mit sich selbst. Diese Erschütterung des Normbewusstseins zeige sich u.a. "in schwindenden Sensibilitäten für gesellschaftliche Pathologien und verfehltes Leben".
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Bild: dpa
Jürgen Habermas
Jürgen Habermas ist Professor emeritus der Goethe-Universität Frankfurt/Main und lehrt an der Northwestern University in Chicago. 2001 wurde ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Zu seinen neueren Buchpublikationen gehören: Theorie des Kommunikativen Handelns (1981); Der philosophische Diskurs der Moderne (1985); Faktizität und Geltung (1992); Die Einbeziehung des Anderen (1996); Die postnationale Konstellation(1998); Wahrheit und Rechtfertigung (1999); Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik? (2001); Glauben und Wissen (2001); Zeitdiagnosen (2003).
->   Person, Werk und Rezeption von Habermas (Uni Magdeburg)
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Diskurse: Moral-Vorstellungen treten im Plural auf
Gegen Kant bleibt laut Habermas festzuhalten: Die Vorstellungen vom Reich Gottes auf Erden oder vom ethischen Gemeinwesen treten "im Plural" auf. Auch die Vernunftmoral - etwa die verfassungsrechtliche Institutionalisierung der Menschenrechte - gewinne "ihre Schubkraft erst durch eine Einbettung in die vielfältigen Kontexte von Weltbildern und Lebensweisen, denen konkurrierende Endzwecke eingeschrieben sind".

Der dabei zu erwartende Dissens müsse in öffentlichen Diskursen ausgedrückt werden, die Philosophie könne dabei die Rolle einer Übersetzerin einnehmen.
Ein Ratschlag für die Philosophie
Auf welche Weise, dafür gab Habermas der aufklärenden Philosophie einen abschließenden Ratschlag. Nicht als Besserwissende soll sie heute den Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen gegenübertreten, sondern sich in zwei Strategien üben: selbstkritische Zurückhaltung und öffentlich-diskursive Einmischung. Für beide Strategien habe Kants Religionsphilosophie Maßstäbe gesetzt, die bis heute gültig sind.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Ö1-Frühjournal zum Habermas-Referat (5.3.04)
->   Habermas-Video: "Der Streit um das ethische Selbstverständnis der Gattung" (Uni Marburg)
Mehr zu Kant in science.ORF.at:
->   Immer noch aktuell: Zum 200. Todestag Immanuel Kants (6.2.04)
->   Neue Werke über Immanuel Kant (19.1.04)
->   Kant - der Geist aus Königsberg (12.2.04; ORF.at)
->   Kant-Biografie von Manfred Kühn (oe1.ORF.at)
 
 
 
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01.01.2010