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Das Ende des europäischen Nationalismus  
  Im 19. und 20. Jahrhundert war der Nationalismus eine geschichtsbestimmende Macht. Durch Globalisierung, Schaffung der EU und den Rückzug des Nationalstaates aus vielen öffentlichen Bereichen verliert er nun immer mehr an Bedeutung, meint der Politikwissenschaftler Michael Ley im Rahmen der Reihe "University meets Public".  
Nationalstaat: Von Vordenkern zu seinem Ende
Von Michael Ley

Jean Bodin, der große Staatstheoretiker der frühen Moderne, stellte die Souveränität des Staates ins Zentrum seiner Erörterungen. Er wollte die Souveränität des Staates gegenüber der Kirche gestärkt sehen; seiner Meinung nach konnten nicht zwei Souveräne nebeneinander bestehen; deshalb übertrug er den Souveränitätsbegriff der Kirche auf den Staat.
Recht und Ordnung wurden "säkulare Gottheiten"
Bodin wurde Augenzeuge der Reformation und des Bürgerkrieges in Frankreich, er traute der Religion nicht mehr zu, gesellschaftliche Ordnung erhalten zu können. Aus diesen Gründen richtete er sein Augenmerk auf den absoluten Staat, dem er mit einem neuen Gottesgnadentum zu einer Machtfülle verhelfen wollte, um gesellschaftliches Chaos zu verhindern.

Damit werden die ersten Schritte in der Moderne unternommen, um Recht und Ordnung in "säkulare Gottheiten" zu verwandeln. Der souveräne Staat sollte letztlich eine Rolle spielen, die die Religion anscheinend verspielt hatte: Bodin wollte eine absolute Monarchie, die jedoch die göttlichen Gesetze anerkennt und in ihrem Namen herrscht.
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"University meets Public"
Das Kooperationsprojekt "University meets Public" zwischen dem Verband Wiener Volksbildung und der Universität Wien gibt es seit fünf Jahren. Nach dem Motto "leicht verständlich, unabhängig von Vorbildung und ohne finanzielle Barrieren" werden auch in diesem Semester eine Reihe von Vorträgen und Veranstaltungen angeboten. science.ORF.at stellt einige der Inhalte in Form von Gastbeiträgen der Lehrenden vor.

Vortrag von Michael Ley: Sind wir am Ende des Nationalismus?
Ort: VHS Favoriten, Arthaberplatz 18 1100 Wien
Zeit: 11.3.2004, 19 Uhr
->   University meets Public
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Hobbes' Leviathan: Der Staat als natürliche Person
Ein weiterer großer Theoretiker des modernen Staates, Thomas Hobbes, fasste in seiner legendären Schrift "Leviathan" den Staat als natürliche Person auf.

Die Souveränität des Staates besteht seiner Meinung nach unabhängig von der Existenz eines Herrschers oder Magistrats, es gibt keine weltliche resp. kirchliche Autorität über dem Staat: Hobbes' Argumentationen besteht darin, dass er einen Schritt über Bodin hinaus geht und die juristischen Grundpfeiler der Bodin'schen Staatstheorie - das göttliche Recht und das Naturrecht - abschafft.
Vertragslogik als Voraussetzung der Nationalismen
So habe der Papst zwar das Recht, einzelne Personen zu exkommunizieren, er dürfe jedoch keine Fürsten oder Könige exkommunizieren. Damit wird der weltliche Souverän zur absoluten Macht, die keinen Beschränkungen unterworfen ist. Hobbes' Staatstheorie kann kurz folgendermaßen umrissen werden: Die Menschen schließen mit dem Souverän einen Vertrag - wie einst Abraham und Moses mit Gott - und übertragen ihm Macht und Gewalt. Der Staat ist somit nach Hobbes eine göttliche Institution, der Gottes Willen offenbart.

Diese Vergöttlichung des Staates, die ihren Höhepunkt in Hegels Rechtsphilosophie erreicht, ist eine wesentliche Voraussetzung für die entstehenden Nationalismen, die über diese Sakralisierung des Staates zur Vergöttlichung des "Volkes" gelangen.
Ende der Totalitarismen, Ende des absoluten Staates
In den modernen Totalitarismen erfuhr die Sakralisierung von Staat und Volk ihren Höhepunkt; nach deren Niedergang schwand allmählich der Glaube an den allmächtigen Staat und damit begann auch der Legitimationsverlust des Nationalismus.

Durch die historische Zäsur des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie der kommunistischen Herrschaft veränderte sich die Einstellung der Bürger gegenüber den Staaten: die Aura des absoluten Staates existiert nicht mehr.
Entkoppelung von Staat und Gesellschaft
Mit dem Legitimationsverlust des Nationalstaates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden Zivilgesellschaften, die die Autorität der Staaten immer mehr in Zweifel zogen und damit kommt es zu einer weitgehenden Entkoppelung von Staat und Gesellschaft.

Die neuen Zivilgesellschaften bedeuteten den Bruch mit der Moderne, die nachmodernen Gesellschaften haben ihren ausschließlichen Bezugsrahmen nicht mehr im nationalen Staat, sondern orientieren sich immer mehr regional als auch transnational.
Emanzipation der Bürger vom Staat
Darüber hinaus können die europäischen Staaten ihre bisherigen sozialen Leistungen nicht mehr erfüllen, der Wohlfahrtsstaat ist an seinem eigenen Erfolg gescheitert, da er nicht mehr finanzierbar ist. Indem die Bürger sich nun vermehrt um ihre sozialen Belange selbst kümmern müssen, emanzipieren sie sich aus der staatlichen Bevormundung.

Auch in anderen Bereichen zieht sich der Staat zurück: z.B. in der Bereitschaft, die Verantwortung für die Volkswirtschaft zu tragen, die jungen Menschen auszubilden und selbst die elementare Funktion des Schutzes ihrer Bürger vor Kriminalität zu übernehmen. Die Tage sind eindeutig vorüber, als sich der Staat wie vor allem in der Ära des "totalen Krieges" zu einem Gott auf Erden aufspielen konnte.
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Literaturhinweise
Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Campus Verlag 1992
Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, Beck Verlag 2000
Michael Ley, Nationalismen - Die gemeinsamen Wurzeln der politischen Religionen, erscheint im Böhlau Verlag 2004
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Das Ende des Nationalismus im EU-Raum
Der nach 1945 schrittweise erfolgte Zusammenschluss der europäischen Nationen zur Europäischen Union war einerseits die Reaktion auf die europäischen Nationalismen und Totalitarismen und andererseits die notwendige Konsequenz der weltweiten Globalisierung.

Mit der Schaffung der Europäischen Union übertragen die einzelnen Nationalstaaten in hohem Maße ihre nationale Souveränität auf die europäische Gemeinschaft und damit kündigt sich ebenfalls das Ende der Nationalstaaten an. Durch die Erweiterung der Europäischen Union wird dieser eingeschlagene Prozess konsequent weitergeführt.

Mit dem Ende des Zeitalters der Nationalstaaten, der Entstehung supranationaler Institutionen und der Ausbreitung von Zivilgesellschaften verliert der Nationalismus seine Voraussetzungen. Die Inszenierungen nationalistischer Mythologien gehören mit wenigen Ausnahmen zur Vergangenheit der europäischen Religionsgeschichte.
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Über den Autor
Michael Ley: Geboren 1955 in Konstanz, BRD, freischaffender Wissenschaftler und Universitätsdozent, lebt in Wien. Arbeitsschwerpunkte: Antisemitismus-, Nationalsozialismus-, Nationalismusforschung, Politische Religionen, Zivilisations- und Kunsttheorie.

Publikationen u.a.: Abschied von Kakanien - Nationalismus und Antisemitismus im Wiener Fin de siècle (2001), Holocaust als Menschenopfer, Münster 2003, Kleine Geschichte des Antisemitismus (2003), Politische Religionen?, Hg., München 2003, Nationalismen - Die gemeinsamen Wurzeln der politischen Religionen (erscheint 2004), Von der Romantik zur ästhetischen Religion, Hg., (erscheint 2004).
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->   Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien
 
 
 
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01.01.2010