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Bäckerhefe entstand aus einem "Super-Organismus"  
  Im Laufe der Evolution kam es nach Ansicht von Forschern einige Male zu einem recht bizarren Vorfall: Zellen verdoppelten ihr Erbgut, ohne sich anschließend zu teilen. Das Ergebnis soll eine Art "Super-Organismus" gewesen sein - mit einem Erbgut, das verschiedenste Anpassungen erlaubt hätte. Was reichlich spekulativ klingt, wollen US-Forscher nun am Beispiel der gewöhnlichen Bäckerhefe nachgewiesen haben, einem beliebten Modellorganismus der Genetiker. Die Arbeit soll zudem ein besseres Verständnis von genetischen Erkrankungen ermöglichen.  
Die Forscher um Manolis Kellis vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben für ihre Studie das Erbgut der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae mit einem vergleichsweise nahen Verwandten verglichen. Ihre Ergebnisse erscheinen im Fachmagazin "Nature".
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Die Studie "Proof and evolutionary analysis of ancient genome duplication in the yeast Saccharomyces cerevisiae" wurde als "Advanced Online Publication" veröffentlicht (7. März 2004) und erscheint in einer der kommenden Printausgaben des Fachmagazins (doi:10.1038/nature02424).
->   Abstract der Studie in "Nature"
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Erbgut eines Vorfahren verdoppelte sich
Wie die Wissenschaftler in "Nature" berichten, entstand die Bäckerhefe einst, als das Genom eines entfernten Vorfahren sich verdoppelte.

Vor einigen Hundertmillionen Jahren entwickelte sich dieser demnach zumindest kurzzeitig zu einer Art "Super-Organismus", wie die Forscher in einer Aussendung des MIT berichten.
Seltenes Ereignis der Genom-Duplikation
Dahinter steht ein Ereignis, dass sich nach Ansicht von Forschern bloß bei einer Handvoll von Gelegenheiten in der Evolutionsgeschichte ereignet hat: Zellen duplizierten ihr gesamtes Erbgut ("whole genome duplication") - ein Vorgang, der im Rahmen der Zellteilung völlig normal ist.

Doch in diesem Fall kam es eben nicht zur Teilung. Vielmehr entstand auf diese Weise ein Organismus, der plötzlich die doppelte Anzahl von Genen aufwies.

Im Fall des Hefevorfahren besaß der Einzeller ganze 11.000 statt der üblichen 5.700 Erbfaktoren. Und auch in der Geschichte der Wirbeltiere - den Menschen eingeschlossen - soll sich dieses Phänomen ereignet haben.
Wichtig für die (genetische) Flexibilität
Die Vorteile jenes Szenarios liegen - zumindest für Evolutionsbiologen - auf der Hand: Schließlich wäre ein Organismus, der lediglich die Minimalanzahl an DNA besitzt, vergleichsweise unflexibel.

Mechanismen, die die Anzahl der Gene erhöhen, gelten daher als wichtig für Variation oder Anpassungsfähigkeit des Organismus - sind also bedeutende Faktoren der Evolution. Und eine komplette Duplikation wäre somit ein gigantischer Schritt hin zu evolutionären Weiterentwicklungen.
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Studie: Genom-Vergleich mit Kluyveromyces waltii
Manolis Kellis und Kollegen verglichen für ihre Studie die genetische Beschaffenheit von Saccharomyces cerevisiae mit der verwandten Spezies Kluyveromyces waltii. Beide teilen einen gemeinsamen Vorfahren, doch ihre Abstammungslinien trennten sich der Untersuchung zufolge noch vor der angenommenen Genom-Duplikation. Demnach erscheinen einige Schlüsselregionen des Erbguts von K. waltii in der Bäckerhefe in doppelter Ausführung. Laut Studie hat S. cerevisiae allerdings mittlerweile rund 90 Prozent des doppelten Erbgutes längst wieder verworfen.
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Gen Nummer Zwei für Anpassung an neue Bedingungen
Im Detail muss man sich dies etwa so vorstellen: Liegt jedes einzelne Gen gleich zwei mal vor, so reicht es, wenn nur eines davon seine normale Funktion erfüllt. Erbfaktor Nummer Zwei hingegen ist sozusagen genetisches Rohmaterial, kann sich verändern und potenziell wertvolle neue Anwendungsbereiche erschließen.

Für den Organismus heißt das, dass er sich sehr viel schneller im Rahmen der natürlichen Selektion weiterentwickeln und beispielsweise an neue Umweltbedingungen anpassen kann, schließlich greift er in diesem Fall auf mehrere tausend veränderbare Gene gleichzeitig zurück.
Verdoppelte Gene verschwinden im Laufe der Zeit
Ein solcher "Super-Organismus" hat allerdings der Theorie zufolge auch seine Nachteile:

Die überschüssigen Gene führen demnach zu einer Instabilität im gesamten Genom - und werden durch gewisse andere zelluläre Mechanismen wieder aussortiert. Daher existieren bereits nach ein paar Jahrtausenden kaum mehr solche verdoppelten Erbfaktoren, wie die Forscher auch bei der Bäckerhefe feststellten.
Früchte als neue Nische für die Hefe?
Im Fall der Hefezellen spekulieren die Forscher, dass die Genom-Duplikation die Ausbreitung in einer neuen Nische ermöglichte: Die Einzeller bauen nämlich Zucker ab und könnten in etwa parallel zu den ersten Früchte tragenden Pflanzen entstanden sein, was zu einem Überangebot an Zucker geführt haben könnte.

Wie Forschungsleiter Kellis erklärt, gilt die Bäckerhefe als der "beste Fermentierer". Und viele der aus der ursprünglichen Genom-Duplikation übergebliebenen und von ihnen identifizierten 457 Gene seien dem Zucker-Abbau gewidmet.
Phänomen erstmals schlüssig nachgewiesen
Wie es in der MIT-Aussendung heißt, konnte eine solche Genom-Duplikation bislang nicht wirklich nachgewiesen werden.

Die Arbeit der Forscher zeige nun erstmals schlüssig, dass die Bäckerhefe durch jenes wenig verstandene Phänomen entstand und kläre damit eine seit langem andauernde Kontroverse über die Herkunft des Hefe-Genoms.
Einblick in genetische Krankheiten beim Menschen
Darüber hinaus sollen die Forschungen auch neue Einblicke in genetische Erkrankungen beim Menschen liefern. Schließlich gehört die Bäckerhefe zu den beliebtesten Modellorganismen.

Denn grundlegende Prozesse, die in der menschlichen Zelle ablaufen, sind weitgehend identisch mit den Abläufen in Zellen weniger komplexer Organismen. Diese einzelligen Organismen - wie beispielsweise die Bäckerhefe - sind experimentell sehr viel leichter zugänglich.
->   Broad Institute des MIT
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01.01.2010