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Studie: Wie individuell sieht der Mensch die Welt?  
  Eine Frage, die vor allem Neurowissenschaftler beschäftigt: Wie einzigartig ist die menschliche Wahrnehmung? Mit anderen Worten: Sehen wir alle die Welt auf die gleiche Art und Weise? Dieses Problem haben israelische Forscher nun mit einem recht simplen Ansatz untersucht. Sie ließen ihre Probanden einen Filmausschnitt ansehen - und untersuchten derweil die Aktivitätsmuster in deren Gehirn. Laut Studie fanden sich tatsächlich einige bemerkenswerte Übereinstimmungen.  
Zwar wurden ähnliche Versuche zuvor bereits durchgeführt, wie die Forscher um Uri Hasson vom Department of Neurobiology des israelischen Weizmann Institute of Science im Fachmagazin "Science" berichten.

Allerdings hatte man sich dabei bislang auf relativ unrealistische Szenarien beschränkt. Die Wissenschaftler dagegen griffen auf einen Klassiker aus dem Italo-Western-Genre zurück: Die Versuchspersonen bekamen einfach 30 Minuten Clint Eastwood in "Zwei glorreiche Halunken" präsentiert.
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Die Studie ist unter dem Titel "Intersubject Synchronization of Cortical Activity During Natural Vision" in "Science", Bd. 303, Seiten 1634 - 1640, Ausgabe vom 12. März 2004 erschienen. In gleichen Heft findet sich auch ein die Ergebnisse beleuchtender "Perspective"-Artikel: "Seeing the World in the Same Way".
->   Die Originalstudie in "Science" (kostenpflichtig)
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Sehen wir alle die Welt auf die gleiche Weise?
"Eine fundamentale Frage der Neurowissenschaft ist, in welchem Ausmaß die Gehirne verschiedener menschlicher Individuen auf ähnliche Weise arbeiten", leiten die Wissenschaftler ihre Studie in "Science" ein.

Bezogen auf den visuellen Bereich der Wahrnehmung lässt sich das Problem noch markanter formulieren: "Sehen wir alle die Welt auf die gleiche Weise?"
Kontrollierte kontra realistische Situation
Zwar hätten verschiedene Studien mit Hilfe bildgebender Methoden bereits substanzielle Übereinstimmungen demonstriert, so die Forscher. Doch die Ergebnisse seien in stark kontrollierten experimentellen Situationen gewonnen worden.

Szenarien also, die spontane und individuelle Variationen einschränken oder gar völlig ausschließen, wie die Neurowissenschaftler meinten. Sie griffen daher auf eine sehr viel realistischere Situation zurück - und ließen ihre Versuchsteilnehmer eine rund 30-minütige Filmsequenz ansehen.
Mit Clint Eastwood der Wahrnehmung auf der Spur
Ihr Filmepos der Wahl lief unter dem deutschen Titel "Zwei glorreiche Halunken". Der legendäre Italo-Western - entstanden 1966 unter der Regie von Sergio Leone - zeigt Clint Eastwood in bewährter Manier als schweigsamen Fremden mit Zigarillo und Colt.

Die große Frage, welche die Forscher dabei bewegte: Inwieweit würden die Gehirne der filmschauenden Probanden übereinstimmende neuronale Aktivitäten zeigen? Um dies zu klären, bedienten sie sich der funktionellen Kernspintomografie (fMRI).
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Hintergrund: Visueller Cortex zerfällt in Sub-Bereiche
Der mit fMRI untersuchte so genannte visuelle Cortex gliedert sich in verschiedene Bereiche auf, wie man aus früheren Studien weiß. Darunter finden sich auch Areale, die relativ spezifisch auf ganz bestimmte visuelle Reize hin aktiv werden. Genau jene Hirnregionen lagen bei der Studie im Zentrum der Aufmerksamkeit.
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Regionale Aktivierung durch Gesichter, Gebäude ...
Die Forscher konzentrierten sich beispielsweise auf einen bestimmten Gehirnbereich, der sich im so genannten Gyrus fusiformis befindet: Hier werden die Neuronen vor allem dann aktiv, wenn der jeweilige Proband menschliche Gesichter ansieht.

Ein weiteres Areal wird immer dann aktiviert, wenn Außenszenen von Landschaften oder auch Gebäuden betrachtet werden.
Ergebnisse zeigen erstaunliche Übereinstimmungen
 
Bild: Hasson et al./Science

Filmausschnitte und neuronale Aktivitätsmuster - in diesem konkreten Fall im Gyrus fusiformis

Und tatsächlich: Den Ergebnissen zufolge waren die Übereinstimmungen bei den Probanden recht erstaunlich. Im Durchschnitt entsprachen sich immerhin 30 Prozent der neuronalen Aktivität bei den einzelnen Probanden-Paaren.

Das mag manchem recht gering erscheinen. Man muss allerdings bedenken, dass Filme häufig komplexe Szenen mit unterschiedlichsten Personen und Objekten zeigen - und die Zuseher sich nicht notwendigerweise immer genau auf den gleichen Bildausschnitt konzentrieren.

"Die Ergebnisse enthüllen eine überraschende Tendenz individueller Gehirne, während natürlichen Sehens 'gemeinsam zu ticken'", formulieren es die Forscher. Mit anderen Worten: In mehr oder weniger realistischer Umgebung reagiert das menschliche Gehirn auf visuelle Reize relativ ähnlich.
Emotionale Szenen zeigen Wirkung
Wie aber lassen sich diese Ergebnisse nun im Detail erklären, fragt sich Luiz Pessoa vom Department of Psychology der amerikanischen Brown University in einem Begleitartikel in "Science".

Eine - naheliegende - Möglichkeit wäre demnach, dass sich hier tatsächlich der emotionale Einfluss der gezeigten Filmszenen (etwa bei einer wilden Schießerei) sehr deutlich zeigt. Dies wurde - zum großen Teil - auch durch die Ergebnisse der Forscher bestätigt.
Trotz allem auch individuelles Erleben
Wie Pessoa allerdings zum Abschluss seines Artikels feststellt, ist eine weitere Beobachtung der Forscher vermutlich ebenso wichtig: dass nämlich große Bereiche der Aktivitätsmuster keine Übereinstimmungen zeigten.

"Somit", schließt der Psychologe, "könnte also doch ausreichend Hirnrinde für dich und mich vorhanden sein, um 'Zwei glorreiche Halunken' auf einzigartige Weise zu erleben. Es bedeutet auch, dass genügend Arbeit übrig bleibt, um Neurowissenschaftler noch für einige Zeit zu beschäftigen."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Department of Neurobiology des Weizmann Institute of Science
->   Department of Psychology der Brown University
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01.01.2010