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Die Bedeutung der Historikerkommissionen  
  Seit den 90er Jahren haben Historikerkommissionen die Zeitgeschichte vieler Länder in einem Ausmaß untersucht, wie das bis dahin nicht geschehen ist. Warum erst so spät, erst 50 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus? Für den Politikwissenschaftler Oliver Rathkolb hat das viel mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Aufbrechen nationaler "Nachkriegsmythen" zu tun. In einem Gastbeitrag schreibt er eine kleine Historie der Historikerkommissionen.  
Kann Geschichte verhandelt werden?
Von Oliver Rathkolb

Das Ende des Kalten Krieges 1989 führte mit Zeitverzögerung zu einer Vielzahl von staatlich initiierten und finanzierten historischen Kommissionen in Europa, aber auch in den USA und in Lateinamerika. Ihre Aufgaben reichten von der Erforschung von NS-Zwangsarbeit über Kunstraub und NS-Vermögensentzug im Allgemeinen bis zu der "Rolle von Banken und Versicherungen bei der Ausplünderung von Vermögenswerten jüdischer und anderer aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgten Opfer des NS-Regimes".

Zur Diskussion gestellt wurde zunehmend auch die Restitution nach 1945, also die Rückgabe geraubten Vermögens sowie die Zahlung von Pauschalentschädigungen (unter Einbeziehung des erblosen Vermögens).
Verspätete Rezeption historischer Erkenntnisse ...
Im Zusammenhang mit Restitutionsforderungen an Gütern aus NS-Raubzügen, an denen neben dem Deutschen Reich auch Tausende "unauffällige" BürgerInnen durch Erwerb von Besitz aus dem Eigentum von verfolgten Juden und Jüdinnen mitgewirkt und über diesen Umweg weitere gigantische Mittel der NS-Rüstungsindustrie zur Verfügung gestellt hatten, stellt sich die Frage: Warum beginnt Europa erst jetzt, diese Fragen mit großem finanziellen Rechercheaufwand neu aufzurollen und in vielen Bereichen erstmals zu regeln?
... ein Relikt des Kalten Krieges
Ein wesentliches Erklärungsmoment für diese verzögerte Diskussion ist sicherlich der Kalte Krieg. In "West"-Europa wurden sehr rasch nach Kriegsende gesellschaftsverändernde Reformprojekte, die eine umfassende politische und rechtliche Auseinandersetzung inkludiert hätten, zu Gunsten einer stabilen und breiten antikommunistischen Allianz erheblich eingeschränkt.

Weder NSDAP- oder SS-Mitgliedschaft noch Antisemitismus, Deutschnationalismus oder MitläuferInnentum und Bereicherung an meist "jüdischem" Eigentum vor 1945 sollten letztlich ein Hindernis für die Mitgliedschaft in der neuen, westlich-demokratischen Gemeinschaft in den Nationalstaaten der Westallianz sein.
Keine tief greifende Auseinandersetzung - außer in Deutschland
Es gab Entnazifizierungsgesetze und -maßnahmen in Deutschland (Ost- und West) und Österreich, KollaborateurInnen wurden in Frankreich, den Niederlanden rechtlich verfolgt und verurteilt - aber eine tief greifende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Wurzeln und seinen Auswirkungen gab es, mit Ausnahme Deutschlands, nicht.
Sensible Fragen direkter "Mitwirkung" wurden nicht gestellt
Gerade im materiellen Bereich wird aber die indirekte oder direkte "Mitwirkung" des einfachen Bürgers, der Bürgerin an der Verwertung des NS-Raubes deutlich, wobei auch staatliche Institutionen bzw. private Banken und Firmen besonders involviert sein konnten. Die antikommunistische Allianz wagte es nach 1945 nicht, diese sensiblen Fragen zu stellen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Fragen wie die Kollaboration der neutralen Staaten (wie der Schweiz und Schwedens) im wirtschaftlichen Bereich, aber auch der Länder mit starken Widerstandsgruppen (wie in Frankreich). Selbst die USA unterstützten die jüdischen Wiedergutmachungsforderungen nur halbherzig.
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Osteuropa: Staatlich inszenierter Antifaschismus
In den kommunistischen Staaten Osteuropas überdeckte der staatlich inszenierte Antifaschismus die individuellen Schicksale, betonte primär das Heldentum kommunistischer WiderstandskämpferInnen und lehnte jede Form von Restitution und Entschädigung ab, da die herrschende Ideologie Privateigentum verstaatlichte und nicht wieder über den Umweg der Restitution wiederbeleben wollte.

Auch Pauschalentschädigungen lehnten alle kommunistischen Staaten wie beispielsweise die DDR ab, da sie sich nicht als Rechtsnachfolger der kollaborierenden Regime oder Hitler-Deutschlands ansahen.
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"Nachkriegsmythen" sollten Kriegswunden heilen
Verstärkt wurde der Trend in Richtung eines rasches Schlussstrichs nach 1945 durch Nachkriegsmythen. Jedes Land versuchte seine inneren Kriegswunden durch eine "nationale Doktrin" zu "heilen" und damit intensiven gesellschaftspolitischen Diskussionen auszuweichen.

Parallel zu dieser Entwicklung dominierten zwischen 1945-1947 Nachkriegsprozesse mit Fokussierung auf die ausführenden TäterInnen. Die Verfahren gegen übergeordnete Behörden und Entscheidungsstrukturen blieben großteils, wenn sie überhaupt stattfanden, in Vorerhebungen stecken.
Dekonstruktion durch Historikerkommissionen
Es ist ein Phänomen, dass die Wiederaufbau-Mythen europäischer Staaten bisher keine differenzierten Sichtweisen zuließen. Die Erinnerungen an die Opfer der NS-Verfolgung wurden auf die ganzen Gesellschaften (mit Ausnahme von kleinen TäterInnengruppen) übertragen, die jüdischen Opfer anonymisiert und nicht als zentrale Gruppe in die Nachkriegsmythen aufgenommen.

Dazu kam auch, dass die überlebenden Opfer derart traumatisiert und mit dem Aufbau neuer Existenzen beschäftigt waren, dass erst die "nachgeborene" Generation präzise Fragen an die Vergangenheit stellte.

Spätestens in den 1990er-Jahren wurden aber die Risse in diesen Wiederaufbaumythen größer. Für die Dekonstruktion der Nachkriegsmythen waren die verschiedenen HistorikerInnenkommissionen wichtig. Inwieweit es gelingt, diese Dekonstruktionen auch in das breite öffentliche Bewusstsein zu bringen, hängt sicherlich davon ab, inwieweit eine gesamtgesellschaftliche Langzeitanalyse gelingt.
Bedeutung der Kommissionsarbeit: "Verhandeln von Geschichte"
Der Kulturwissenschaftler Elazar Barkan hat eine interessante These angeboten: Barkan analysierte die Bedeutung von konkreten, aber auch symbolischen Restitutionen bzw. Entschädigungen für Unrechtstaten, um über die daraus entstehenden Debatten eine neue, gemeinsame Geschichte über das erlittenene bzw. verursachte Unrecht zu entwickeln.

Restitution und Kompensation von Vermögensentzug im Zuge von Menschenrechtsverletzungen sind für Barkan in erster Linie "verhandelte Geschichte", in der verschiedene durch ein "historisches Verbrechen" verknüpfte Gruppen durch die Suche nach einem gemeinsamen Narrativ den Konflikt bewältigen und damit zugleich auch ein Stück weit ihre Identität verändern. Die moderne Strafgerichtspflege hat längst ein ähnliches Modell entwickelt, die Diversion.
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"Schlussstrich-Tendenz"
Problematisch bei diesem Ansatz bleibt aber die Tatsache, dass für eine Diversionslösung Entschädigung, aber kein Schuldeingeständnis erforderlich ist, sodass es die "Schlussstrich-Tendenz" der ursprünglichen Restitutionsverfahren der 1950er- und 1960er-Jahre, in denen es auch mehrheitlich Vergleiche gegeben hat, nur noch weiter unterstreicht.
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Gemeinsame Auseinandersetzung der 2. Generation
In diesem Zusammenhang erscheint laut Barkan auch nicht primär der materielle Restitutionswert von Bedeutung, sondern die gemeinsame Auseinandersetzung mit Raub, Entziehung, Rückstellung und Kompensation, d.h. das Verhandeln über Geschichte ist wesentlich.

Nur eine Auseinandersetzung zwischen TäterIn bzw. zweiter Generation aus der Täter-, Mittäter- und ZuschauerInnengesellschaft des Verbrechens mit den Opfern bzw. deren Nachkommen sowohl über die Geschichte des Verbrechens als auch der Restitution/Entschädigung erlauben eine entsprechende gemeinsame Basis der Auseinandersetzung; einen gemeinsamen Narrativ wird es meiner Meinung nach sehr selten geben.
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Auszug aus dem Beitrag von Oliver Rathkolb erschienen in: Gedächtnis und Gegenwart. HisotrikerInnenkommissionen, Politik und Gesellschaft, hg. vom Forum Politische Bildung, Wien 2003/04 (= Informationen zur Politischen Bildung Nr. 20).
->   Servicestelle Politische Bildung
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->   Historikerkommission der Republik Österreich
Mehr zur Österreichischen Historikerkommission:
->   Historikerkommission startet Ringvorlesung (26.2.04)
->   Endbericht der Historikerkommission in Buchform (19.11.03)
->   Historikerkommission: NS-Entschädigung oft nur halbherzig (24.2.03)
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->   Benes-Dekrete: Gutachten bestimmen den Streit (2.10.02)
->   "Wehrmachtsausstellung" und Diskurs über Gewalt (20.2.02)
 
 
 
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01.01.2010