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Was geschah vor dem Urknall?  
  Der Urknall wird nach einer weit verbreiteten Theorie als der Beginn von Raum und Zeit angesehen. Die Frage, was sich vor dem "Big Bang" ereignet haben mag, stellt sich gemäß dieser Auffassung nicht. Nach Meinung eines deutschen Physikers könnte es aber auch ganz anders gewesen sein. Demzufolge existierte unser Universum auch vor dem Urknall: Und zwar - so bizarr es klingen mag - als inverse Kopie seiner selbst in einer negativen Zeitdimension.  
Zu diesem Schluss kommt Martin Bojowald vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik mit Hilfe der so genannten "Loop Quantum Gravity" - eine vielversprechende Theorie, mit der man die widersprüchlichen Prinzipien von Allgemeiner Relativität und Quantenphysik vereinen kann.
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Seine diesbezüglichen Berechnungen hat Martin Bojowald erstmals in dem Artikel "Absence of Singularity in Loop Quantum Cosmology" vorgestellt, der in den "Physical Review Letters" (Band 86, S.5227-30) veröffentlicht wurde. Eine aktuellere Version seiner Ideen findet sich im Artikel "Quantum Gravity and the Big Bang", der wie ersterer am Preprintserver arXiv.org erhältlich ist.
->   Weitere Artikel von Martin Bojowald (arXiv.org)
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Der Anfang aller Dinge
Bild: NASA/NAI
Die Idee, dass es einmal einen definitiven Anfang des Universums in Form des Urknalls gegeben hat, ist relativ alt. Bereits im Jahr 1927 stellte der belgische Astronom Georges Lemaitre die Hypothese auf, dass der Kosmos aus einem Punkt heraus entstanden sein muss.

Allgemein akzeptiert ist diese Ansicht jedoch erst seit dem Jahr 1965, als die so genannte Hintergrundstrahlung - gewissermaßen ein Echo des Urknalls - von Arno Penzias und Robert Wilson entdeckt wurde.

Seitdem gilt: Vor rund 13,7 Mrd. Jahren ereignete sich die Mutter aller Explosionen, die unsere Welt entstehen ließ. In dieser Zeitspanne hat sich der Kosmos stetig ausgedehnt - und er tut es noch immer.
->   Astronomen hören "Weltentstehungsmusik" (3.4.01)
Probleme mit dem Urknall
Gleichwohl ist nicht alles eitel Wonne mit der Urknall-Hypothese. Folgt man nämlich dem Zeitpfeil in Richtung Vergangenheit, dann gelangt man irgendwann zu einem Zustand unendlicher Energie und Dichte, bei dem die gesamte Materie des Universums in einem Punkt konzentriert sein musste.

Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt zwar die Existenz solcher Zustände - so genannter Singularitäten - voraus. Sie bricht aber, wie die Physiker sagen, genau an diesem Punkt zusammen.

Mit anderen Worten, sie scheitert an einer angemessenen Beschreibung von Singularitäten - und um genau eine solche handelt es sich beim Urknall.
Umfassende Theorien umgehen Schwierigkeiten
Um diese Schwierigkeit zu umgehen, bedarf es einer Theorie, die sowohl die Gesetze des Großen (Raumzeit) als auch die Gesetze des Kleinen (Quanten) korrekt behandelt.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Kandidaten: Zum einen die Stringtheorie, die vor allem von Quantenphysikern favorisiert wird.
->   Extra-Dimensionen in der Mikrowelt? (27.2.03)
"Loop Quantum Gravity" als ultimative Lösung?
Zum anderen die noch relativ unbekannte "Loop Quantum Gravity" (LQG), die erstmals im Jahr 1987 auf einer Konferenz in Indien vorgestellt wurde. Nach diesem Konzept besteht die Welt aus kleinsten ringförmigen Gebilden ("Loops") mit einem Durchmesser von nur 10 hoch -35 Metern.

Demzufolge ist die Feinstruktur des Universums "körnig", Zeit und Raum können nur in diskreten, d.h. unteilbaren Schritten zunehmen.
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Einen ausgezeichneten Überblick zur LQG gibt Carlo Rovelli in seinem Aufsatz "Loop Quantum Gravity", erschienen in "Living Reviews in Relativity" (1998/1).
->   Zum Artikel
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"Urknall als Anfang der Zeit ist Mystizismus"
"Die Annahme, dass der Urknall der erste Moment in der Zeit war, ist mehr religiöser Mytizismus als Wissenschaft", meint der Vater der "Loop Quantum Gravity", Lee Smolin vom Perimeter Institute in Waterloo. Soll heißen: Dass der Urknall stattgefunden hat, ist sehr wahrscheinlich. Aber seine Rolle als "Anfang aller Dinge" ist durchaus zweifelhaft.
->   Loop Quantum Gravity bei Wikipedia
Rechnerische Reise in die Vergangenheit
Was das im Detail bedeutet, hat der deutsche Physiker Martin Bojowald kürzlich gezeigt. Er unternahm eine rechnerische Reise in die Vergangenheit und untersuchte, wie das Universum aus Sicht der LQG zum Zeitpunkt des Big Bang aussieht.

Dabei stieß er auf zwei interessante Folgerungen. Zum einen wurden die mathematischen Schwierigkeiten vermieden, unter denen die Allgemeine Relativitätstheorie leidet: Eine so genannte Singularität tritt aufgrund der Körnigkeit des Universums nämlich nicht auf.
Ein Spiegeluniversum in einer negativen Zeitdimension
Die viel spannendere Botschaft ist aber folgende: Mit den Mitteln der LQG ist die Reise in die Vergangenheit nicht beim Urknall beendet: Vielmehr eröffnet sich auf der anderen Seite dieses Punktes eine bizarre Welt mit negativer Zeit, in der die Expansion des Kosmos durch Kontraktion ersetzt wird.
"Das Universum existierte immer schon"
In dieser Welt sind - gleichsam wie bei einem umgestülpten Luftballon - Links und Rechts, Außen und Innen vertauscht. Das ist aus physikalischer Sicht nicht besonders schlimm ist, da die meisten Naturgesetze auch für vertauschte Symmetriebedingungen gelten.

Wenn die Theorie stimmt, dann können wir jedenfalls nicht länger sagen, dass der Urknall den Beginn der Zeit markiert: "Demnach hatte das Universum keinen Anfang. Es existierte immer schon", betont Bojowald gegenüber dem Magazin "New Scientist".
->   Symmetrien: Ordnungsmuster in der Natur (22.3.02)
Experimentelle Tests im Prinzip möglich
Elegante Berechnungen sind eine Sache, aber wie steht es mit experimentellen Überprüfungen der Theorie? Mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden technischen Mitteln sind solche nicht möglich.

Aber mit dem "Gamma Ray Large Area Space Telescope" der NASA, dessen Inbetriebnahme für das Jahr 2006 anberaumt ist, könnte sich das durchaus ändern. Damit ließen sich nämlich gewisse Streuungen von Strahlenpartikel im Universum messen, wie sie nach der LQG vorausgesagt werden.

Und dann wissen wir endlich, was wir auf den Satz "Was geschah vor dem Urknall?" zu antworten haben. Entweder wie bisher: "Falsch gestellte Frage" - oder doch: "Eine gute Frage ...".

Robert Czepel, science.ORF.at
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Literatur-Tipp
Zu diesem Thema erschien der Artikel "The world turned inside out" von Amanda Gefter in der Zeitschrift "New Scientist" (Ausgabe vom 20.4.04, S. 35-7).
->   "New Scientist"
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->   Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik
->   Perimeter Institute for Theoretical Physics
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Mächtiges Summen: Sound des Urknalls im Internet (29.10.03)
->   Das Universum gleicht einem Fußball - oder doch nicht? (9.10.03)
->   Urplasma: Physiker bestätigen ihr "Rezept" (12.6.03)
->   Urknall: Nicht Beginn von Raum und Zeit? (25.4.02)
->   Das Stichwort Urknall im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010