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Wie viel Vertrauen haben Europas Nationen zueinander?  
  Nicht nur Nationalstaaten sind auf ein gewisses Maß an Zusammenhalt in der Bevölkerung angewiesen, sondern auch supranationale Staatengemeinschaften wie die Europäische Union. Doch wie sehr vertrauen sich die Europäer tatsächlich? Mit dieser Frage hat sich eine Studie beschäftigt - und dazu Umfragedaten des Eurobarometers analysiert. Ein Ergebnis: Am nächsten sind den Europäern immer noch die eigenen Landsleute. Und den Menschen aus den Beitrittsländern Ostmitteleuropas bringen die EU-Bürger nur geringes Vertrauen entgegen.  
Dies lasse Integrationsprobleme erwarten, wenn die EU im Mai 2004 auf 25 Mitgliedsstaaten anwächst, schreibt der Soziologe Jan Delhey vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in einem Bericht, der die Ergebnisse einer WZB-Studie zusammenfasst.
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Der Artikel von Jan Delhey ist unter dem Titel "EU: Identität und Integration. Nationales und transnationales Vertrauen in Europa" in den WZB-Mitteilungen erschienen (Heft 103, Seiten 7-11, Ausgabe vom März 2004).
->   Der Artikel im Volltext (WZB-Mitteilungen als pdf)
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Auf dem Weg zu einem Staat "Europa"
"Viele sehen die EU auf dem Weg zu einem Staat 'Europa'", schreibt Jan Delhey in den WZB-Mitteilungen. "Doch folgt der immer engeren politischen Zusammenarbeit auch eine 'immer engere Union der Völker Europas', wie es sich die EU selbst zum Ziel gesetzt hat?"

Sprachgrenzen und zwei Weltkriege dienen dem Soziologen als Erinnerung daran, was die einzelnen Nationen trennt. Die WZB-Studie hat nun untersucht, ob die Europäer trotz allem auf dem Wege sind, "so etwas wie eine europäische Gesellschaft zu formen".
Eurobarometer-"Vertrauensfrage" als Grundlage
Grundlage der Untersuchung: Die allgemein zugänglichen Umfragen der Europäischen Kommission ("Eurobarometer"), die seit 1973 mindestens einmal jährlich durchgeführt werden. Darin wird auch die "Vertrauensfrage" gestellt.
Eine Gesellschaft? Verbundenheit als Anhaltspunkt
Genau diese haben sich die Wissenschaftler nun genauer angesehen. Denn sie gehen davon aus, dass eine europäische Gesellschaft sich weniger an Ähnlichkeiten hinsichtlich Sozialstruktur oder Kultur festmachen lässt.

"Wichtiger ist, wie stark die Verflechtungen zwischen den EU-Völkern sind und wie solidarisch verbunden sie sich miteinander - über nationale Grenzen hinweg - fühlen", formuliert es Jan Delhey.
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Die "Vertrauensfrage" der Eurobarometer-Umfrage
Vertrauen wurde demnach in den Eurobarometer-Umfragen wie folgt gemessen: "Ich möchte Sie nun danach fragen, wie viel Vertrauen Sie in Menschen verschiedener Länder haben. Sagen Sie mir bitte für jedes Land, ob Sie ihnen eher Vertrauen oder eher nicht vertrauen" (Eurobarometer 47.0 von 1997).

Die Liste enthielt alle EU-Nationen (Belgier, Dänen, Deutsche, Griechen, Spanier, Franzosen, Iren, Italiener, Luxemburger, Niederländer, Österreicher, Portugiesen, Finnen, Schweden, Engländer) sowie US-Amerikaner, Russen, Polen, Ungarn und Tschechen. Bislang liegen Daten aus neun Umfragen (1976 - 1997) vor.
->   Eurobarometer-Homepage der Europäischen Kommission
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Vertrauen zeigt Stärke des "sozialen Kitts"
Vertrauen in "die anderen" sage aus, wie stark der soziale Kitt zwischen den am politischen Einigungsprozess beteiligten Nationen sei, so Delhey. Gegenseitiges Misstrauen dagegen als Grundhaltung der EU-Bürger würde die Idee einer europäischen Gesellschaft wohl eher in Frage stellen.
Im Durchschnitt überwiegt das Vertrauen
Zumindest dies scheint allerdings nicht der Fall zu sein: Die einzelnen Nationen schenken ihren Partnern in der EU im Schnitt mehr Vertrauen als Misstrauen, berichtet der Soziologe. Mit Ausnahme Griechenlands, dessen Bevölkerung lediglich drei andere Nationen positiv bewertet (Spanier, Portugiesen und Schweden).

Das weitaus meiste transnationale Vertrauen haben demnach die Schweden geäußert, gefolgt von Dänen und Niederländern.

Und: Im Laufe der Zeit - zwischen 1976 und 1997 - ist das Vertrauen in EU-Bürger anderer Nationen in immerhin acht von zwölf betrachteten Ländern gewachsen. Gesunken ist es lediglich in Griechenland.
Nord-Süd-Gefälle zu beobachten
"Allerdings machen auch diese 'High-Trust'-Nationen Unterschiede", wie Delhey weiter ausführt. Denn sie vertrauen den Südeuropäern deutlich weniger als West- und Nordeuropäern.

Dieses Nord-Süd-Gefälle zeigt sich im Übrigen auch insgesamt: Die nördlichen Nationen haben demnach über-, die südlichen hingegen unterdurchschnittliches transnationales Vertrauen.
Den eigenen Landsleuten vertraut man am meisten
Wenig überraschend ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Alle Nationen vertrauen den eigenen Landsleuten mehr als den europäischen Partnern. "Der EU-Sozialraum funktioniert also noch nicht wie 'eine' Gesellschaft, sondern ist nach wie vor national codiert."

Die Daten zeigen etwa auch, dass die Völker der südlichen und nordwestlichen Peripherie für die anderen Europäer am wenigsten vertrauenswürdig sind - und sie wählen sich selbst auch kaum untereinander, geht es um die Frage, welchen Nationen man am meisten vertraut.

Daraus folgern die Soziologen, dass einseitiges Vertrauen nicht unbedingt an die geografische Nähe gekoppelt ist. Gegenseitiges Vertrauen hingegen schon, so die Ergebnisse. Denn hier zeigt sich in der Regel eine Verbindung durch gemeinsame Geschichte, durch sprachliche und kulturelle Nähe (Beispiel: Schweden und Dänen).
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Vier "Stars" in punkto Vertrauen
Festgehalten wurde von den Forschern auch, welchen zwei Völkern die EU-Nationen jeweils am meisten vertrauen: "In der Sprache der Soziometrie gesprochen gibt es vier 'Stars': die Schweden, Niederländer, Luxemburger und Dänen. Sie vereinen auf sich einen Großteil der abgegebenen 'Voten' und werden auch von den Südeuropäern als vertrauenswürdig eingestuft. Eine zweite Gruppe - Finnen, Österreicher, Deutsche und Franzosen - ist schwächer in die Gemeinschaft integriert als die Stars, erhält aber immer noch zwei oder drei 'Voten'. Belgier, Briten, Spanier und Portugiesen erhalten schließlich nur je eine Nennung, Iren, Italiener und Griechen gar keine."
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Nationales und transnationales Vertrauen wachsen
Im Laufe der Zeit hat im Übrigen für die Mehrzahl der Länder sowohl nationales als auch transnationales Vertrauen zugenommen. Ein Hinweis darauf, wie Delhey schreibt, dass nationale und europäische Integration nicht zwangsläufig im Widerspruch stehen.

Allerdings war die Zunahme beim Vertrauen gegenüber den eigenen Landleuten größer als im transnationalen Maßstab.

Mit anderen Worten: Die grenzüberschreitenden Sozialintegration innerhalb Europas ist absolut betrachtet gewachsen, nicht aber, wenn man sie relativ zum Ausmaß der nationalen Integration betrachtet. Der zweite Maßstab ist allerdings theoretisch bedeutsamer, wie Delhey anmerkt.
Deutsche verloren seit 1990 Vertrauen
Interessantes Detail: Nahezu alle Länder haben im Untersuchungszeitraum von wachsendem grenzüberschreitenden Vertrauen profitiert.

Einzige Ausnahme ist Deutschland, dessen Bewohner seit 1990 wieder argwöhnischer betrachtet werden. "Offenbar weckt das vereinigte Deutschland alte Sorgen bei seinen Nachbarn", schließt der Soziologe Delhey.
Ausblick für die Osterweiterung der EU
Was aber ist nun für die bevorstehende Osterweiterung der EU zu erwarten, die am 1. Mai 2004 in Kraft tritt? Im Augenblick zumindest ist das Bild eher getrübt, denn laut Studie wird den Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken derzeit von der jetzigen EU-Bevölkerung nur wenig Vertrauen entgegengebracht.

In vielen Ländern überwiegen demnach negative Haltungen, besonders in Deutschland und Österreich.

Zwar könne das Vertrauen durchaus noch anwachsen, kommentiert Delhey die Ergebnisse, "derzeit aber ziehen die Westeuropäer eine deutliche Grenze zwischen sich und den Ostmitteleuropäern, was auf Grenzen der Solidarität hinweist."
Zur aktuellen Debatte: Tiefes Misstrauen gegenüber Türken
Und wie Delhey weiter berichtet - bezugnehmend auf eine sehr aktuelle Debatte: Ein Beitritt der Türkei wäre noch problematischer, tiefes Misstrauen gegenüber den Türken zieht sich nämlich durch alle EU-Nationen.
->   Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Das Ende des europäischen Nationalismus (9.3.04)
->   Trotz Europa: Österreicher bleiben "Österreicher" (15.12.03)
->   Der schwierige Weg zu einer Europa-Identität (7.3.03)
 
 
 
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01.01.2010