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Sprechen über Kultur in biologischen Begriffen  
  Rein genetisch betrachtet stellt die Menschheit eine ausgesprochen einheitliche Ansammlung von Erbfaktoren dar. Demgegenüber weist der Mensch als Kulturwesen eine ungeheure Vielfalt an Lebensformen auf. Zwei britische Biologen unternahmen nun den provokanten Versuch, diesen Sachverhalt mit biologischen Begriffen zu beschreiben.  
Wie Mark Pagel von der University of Reading und Ruth Mace vom University College in London berichten, gehorcht die Verteilung verschiedener Kulturen dem selben geografischen Muster, wie es etwa bei der Diversität verschiedener Tierarten festgestellt wurde.

Die Ursache dieser Ähnlichkeit verorten die beiden Biologen in den ökologischen Lebensbedingungen. Aber nicht nur: Die Stabilität kultureller Gruppen sei auch durch das Sozialverhalten des Menschen bedingt.
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Der Artikel "The cultural wealth of nations" von Mark Pagel und Ruth Mace erschien in der Zeitschrift "Nature" (Band 428, S.275-8, Ausgabe vom 18.3.04; doi:10.1038/428275a).
->   Zum Original-Artikel (kostenpflichtig)
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Homo sapiens: Genetischer Einheitsbrei ...
Dass Homo sapiens im Vergleich zu anderen Tierarten eine genetisch äußerst homogene Spezies darstellt, ist allgemein bekannt.

So konnte etwa eine Arbeitsgruppe um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie im Jahr 1999 zeigen, dass die Erbfaktoren der gesamten Menschheit weniger variieren, als dies bei einer durchschnittlichen Wildpopulation von Schimpansen der Fall ist.
... und kulturelle Diversität
Im Gegensatz dazu weist die Menschheit eine enorme kulturelle Vielfalt auf, zu der es in der gesamten Tierwelt nicht einmal ansatzweise Gegenstücke gibt: So etwa Riten und religiöse Praktiken, 7.000 verschiedene Sprachen, patriarch- wie matriarchalische Gesellschaftsstrukturen, unterschiedlichste Ernährungsweisen u.v.m.
Kulturen als Sprachgruppen definiert
Stellt sich die Frage: Kann diese Diskrepanz mit biologischen Begriffen sinnvoll erläutert werden? Sie kann, so zumindest die Meinung von Mark Pagel und Ruth Mace in ihrem aktuellen "Nature"-Artikel.

Die beiden Forscher definieren "Kultur" zunächst als die "Summe von geteilten Glaubensinhalten, Werten und Praktiken", die ihrerseits sprachlich vermittelt werden. Daher sei es gerechtfertigt, Kulturgruppen methodisch auf Sprachgruppen zu reduzieren.
Sprachen sind nicht gleichmäßig verteilt
Bild: Nature
Was die Verteilung der menschlichen Sprachen anlangt, fallen gewisse Ballungen auf: Allein auf Neu Guinea werden etwa 700 bis 1.000 unterschiedliche Sprachen gesprochen, im flächenmäßig rund zwölf mal so großen China dagegen nur 90. Pagel und Mace weisen darauf hin, dass solche Ballungen auch aus Biodiversitäts-Studien bekannt sind.

Nach der so genannten Rapaport-Regel ist die Zahl unterschiedlicher Tierarten pro Fläche in den äquatorialen Regionen besonders hoch und nimmt in Richtung Nord- und Südpol kontinuierlich ab.

Die ökologische Erklärung dafür nimmt auf die starken jahreszeitlichen Klimaschwankungen in Richtung der Pole Bezug: Diese fördert generalistische Arten, während es in Äquatornähe zu eher spezialisierten Nischenbildungen kommt. Letzteres bedingt wiederum eine höhere Artenzahl pro Fläche (siehe Abbildung rechts).
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Mehr Sprachen in südlichen Breiten
Offensichtlich gilt die Rapaportsche Verteilungsregel auch für menschliche Sprachgruppen, wie zumindest an amerikanischen und afrikanischen Kulturen nachgewiesen werden konnte. Allerdings lässt sich das nicht durch das ökologische Argument begründen, da es auf zwischenartliche Unterschiede Bezug nimmt.
->   Mehr dazu bei nationalgeographic.com
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Umwelteinfluss auf kulturelle Vielfalt
Warum zeigen Kulturen so ein Verteilungsmuster? Pagel und Mace gestehen zunächst der Umwelt einen gewissen Einfluss zu: Weniger ertragreiche Landschaften, wie sie in kälteren Klimaten zu finden sind, fördern Kulturen mit größerem Arealbedarf.

Das zeige aber nach Ansicht der beiden britischen Biologen noch nicht, warum in Äquatornähe eine erhöhte kulturelle Vielfalt (pro Fläche) bestehe.
Kulturen sind zeitlich stabile Einheiten
Dies habe mit zwei sozio-biologischen Tendenzen zu tun: Zum einen spalten sich menschliche Populationen kontinuierlich von größeren Gruppen ab, die ihre Ressourcen nach außen verteidigen. Dies fördert die kulturelle Vielfalt.

Zum anderen haben sich offensichtlich Mechanismen herausgebildet, welche die Identität von Kulturgruppen aufrechterhalten. Kulturen sind nicht beliebig mischbar, sondern fungieren vielmehr als Barriere beim Austausch von Traditionen.

So hat eine Arbeitsgruppe um Robert Sokal von der New Yorker State University im Jahr 1990 gezeigt, dass europäische Sprachgrenzen fast immer mit genetischen Unterschieden zusammenfallen. Im Prinzip wenig überraschend: Partnersuche ohne sprachliche Verständigung passiert eben äußerst selten.
Kulturelle Identität fungiert als Filter
So wie Arten als biologische Kreuzungsbarriere fungieren, lassen sich auch bei Kulturen analoge Mechanismen ausmachen. Nicht umsonst hat etwa der Psychologe Erik Erikson in den 1960er Jahren soziale Abgrenzungen als "Pseudospeziation" bezeichnet.

Während die ganze Welt am Computer arbeite, säßen Franzosen nach wie vor am ordinateur, so ein linguistisches Beispiel von Pagel und Mace. Bliebe aus heimischer Sicht hinzuzufügen: Während ganz Europa Konfitüre isst, schmieren allein die Österreicher Marmelade auf ihr Frühstücksbrot.
->   Mehr zu Erik Erikson (Portland State University)
Kooperation als Ursprung der Gruppenbildung
"Kulturen", so schreiben Pagel und Mace, "errichten Barrieren für die Bewegung von Menschen und Ideen. Aber was ist so wertvoll, dass es geschützt werden muss?" Die Antwort liegt ihrer Meinung nach darin begründet, dass Menschen bereits in naturhistorischer Zeit Aufgaben erledigen mussten, die für den einzelnen nicht zu bewältigen waren, wie etwa die Jagd.

Mit anderen Worten, der Mensch weist eine Disposition für kooperatives Verhalten auf - und das sei historisch an abgeschlossene (Kultur-)Gruppen gebunden gewesen.
Ist der Analogieschluss zulässig?
Bleibt noch die grundsätzliche Frage: Warum ist es überhaupt legitim, eine Parallelisierung von Natur und Kultur vorzunehmen? Dafür spricht zumindest folgendes Argument: Auf beiden Ebenen geht es um die Weitergabe von Information - Gene auf der einen Seite, Traditionen auf der anderen.

Mit diesem Analogieschluss lassen sich wohlgemerkt nur die Verteilungsmuster kultureller Einheiten beschreiben, deren Inhalt ist freilich Sache der Ethnologie und Soziologie.

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010