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"Vergewaltigung": Die Verletzung der Gemeinschaft  
  Der Begriff "Vergewaltigung" bedeutet heutzutage jemanden - zumeist eine Frau - mit Gewalt zum Sex zu zwingen. Diese Bedeutung ist wortgeschichtlich gesehen aber relativ neu. Ursprünglich bezeichnete sie die rechtswidrige Verletzung von Frauen als Eigentum einer Gemeinschaft. Dass trotz des jungen "sexuellen Selbstbestimmungsrechts der Frau" eine Bedeutungskontinuität bis heute gegeben ist, argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Angela Koch in einem Gastbeitrag.  
Bedeutungskontinuität von "Vergewaltigung"
Von Angela Koch

"Vergewaltigung" leitet sich vom althochdeutschen "giwalt" ab, das eine Verbindung von Macht und Herrschaft (über ein Kollektiv) darstellte. Erst im Mittelalter bekam der Begriff die zusätzliche Bedeutung von Unrecht und Zwang.

"Vergewalten/vergewaltigen" bedeutete im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vor allem die illegitime Gewaltausübung, den Raub, die Unterdrückung einer Gemeinschaft oder die gewalttätige Verletzung einer Korporalität durch einen Fremden.
In der Neuzeit: Verschwinden aus Rechtssprechung
Im 17. und 18. Jahrhundert hat sich der Begriff "Vergewaltigung" immer weiter auf die unrechtmäßige und rohe Kraftausübung sowie auf den widerrechtlichen Eingriff in fremde Rechte, Personen oder Länder betreffend, eingeengt.

Im 19. Jahrhundert verschwindet er weitgehend aus der Rechtsprechung und den Enzyklopädien. Er taucht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder in den Konversationslexika mit der heute üblichen Bedeutung von sexueller Gewalt auf.
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Grimmsches Wörterbuch
Im Grimmschen Wörterbuch von 1956 jedoch bezeichnet die "Vergewaltigung" immer noch in erster Linie "gewaltsames unterwerfen" und den "gewaltsamen eingriff in fremde rechte, fremden besitz". Von "Vergewaltigung" können Land und Leute, die Untertanen, die Unschuld, der Willen, das Recht, der Leib und die Güter betroffen sein. Erst im zweiten Punkt wird für "Vergewaltigung" auch die Bedeutung stuprum, d. h. Schändung, Entehrung und sexuelle Gewalt genannt.
->   Grimms Wörterbuch (Uni Trier)
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"Notzucht" für sexuelle Gewalt
Während also "Vergewaltigung" für die Entehrung und Schädigung eines Kollektivs stand, wurde für die Bezeichnung der sexuellen Gewalt seit dem Mittelalter der Begriff "Notzucht" verwendet. Die "Notzucht" hat ihre Wurzel im althochdeutschen not zogon, "mit Gewalt entführen" - "Not" bezieht sich hier auf das Nötigen. notzog bedeutet auch "Folterbank".

Im Gegensatz zur "Vergewaltigung" bezeichnet die "Notzucht" die konkrete sexuelle Gewalt, die gegen die Frau als Person gerichtet ist, und bezieht sich nicht auf das Kollektiv.
Ideengeschichte verweist seit Antike auf Kollektiv
Die ideengeschichtliche Entwicklung der sexuellen Gewalt gegen Mädchen und Frauen verweist schon seit der Antike auf das Kollektiv: Sei es in Kriegen, in denen Frauen als (sexuelle) Sklavinnen genommen werden oder in denen nationale Gemeinschaften durch sexuelle Gewalttaten angegriffen werden sollen, sei es in Friedenszeiten, wenn sexuelle Gewalt gegen Frauen als Beraubung der patriarchalen Clans oder Familien angesehen wird.
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Die Geschlechtsehre: Kontrolle der Reproduktionskraft
Schon im Mittelalter spielte die "Ehre" bzw. "Geschlechtsehre" der Frau eine Rolle. Dies wurde auch in der Constitutio Criminalis Carolina aus dem 16. Jahrhundert (z. T. bis ins 19. Jahrhundert gültig) verankert:

"Item so jemand einer unverleumdeten Ehefrau, Witwe oder Jungfrau mit Gewalt und wider ihren Willen ihre jungfräuliche oder frauliche Ehre nehme, derselbige Übeltäter hat das Leben verwirkt und soll auf Beklagung der Genötigten für die Ausführung der Missetat einem Räuber gleich mit dem Schwert vom Leben zum Tod gerichtet werden." (Consitutio Criminalis Carolina, § 119)

Wenn aber nicht die Frau, sondern ihre "Geschlechtsehre" unter dem Schutz der Gemeinschaft steht, bedeutet dies die Kontrolle ihrer Reproduktionskraft. Männer dagegen besitzen keine Geschlechtsehre, sie werden als die Träger der Gemeinschaft konzipiert und nicht als ihr Besitz. Diese Rechtsauffassung setzt sich z. T. bis in die heutige Zeit fort.
->   Mehr über die Constitutio Criminalis Carolina
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Delikt gegen die Allgemeinheit
Im 18. Jahrhundert war von der sexuellen Gewalt als "Violierung der öffentlichen Sicherheit" die Rede. Im deutschen Reichstrafgesetzbuch von 1871 wurde sie als "Delikt gegen die Allgemeinheit" behandelt und unter das Kapitel "Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" subsumiert. Die Sittlichkeit stellte eine Verbindung zwischen der Sexualität und der öffentlichen Moral dar.

Ganz ähnlich wurde im österreichischen Strafgesetz von 1852 die Notzucht im Bereich der Sittlichkeitsdelikte angesiedelt und das Geschlechtsleben der Frau mit der Ehre und der körperlichen Unversehrtheit in Verbindung gebracht. Das wiederum verweist auf die gesellschaftliche Kontrolle und Verfügbarkeit über die Reproduktionsfunktion der Frau.
Beispiel: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
Auf der metaphorischen Ebene werden die "Vergewaltigung" der Frau und des Kollektivs schon seit der Antike verknüpft. Deutlich wird dies auch in dem republikanischen Drama "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua" aus dem Jahr 1783 von Friedrich Schiller.

Darin wird Berta, die Tochter eines bürgerlichen republikanischen Verschwörers, vom frisch gekürten Tyrannen Genuas vergewaltigt. Berta wird zur Allegorie der bürgerlich städtischen Gemeinschaft, die vom feudalen Tyrannen bedroht wird. Indem der Tyrann getötet wird, können die öffentliche Ordnung wieder hergestellt und die städtische Integrität sowie Bertas Ehre gerettet werden.
->   Schillers Fiesco zu Genua (Projekt Gutenberg)
Von der Verletzung kollektiven Eigentums ...
Auch wenn das Recht der sexuellen Freiheit der Frau schon seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert wird, steht die rechtswidrige Verletzung von Frauen als Eigentum des Kollektivs (Ehe, Familie, Gemeinschaft, Nation) bis in die 70er Jahre im Vordergrund der Rechtsprechung.

In dem Moment aber, in dem als Rechtsgut nicht mehr die Gemeinschaft, sondern das Selbstbestimmungsrecht der Frau festgelegt wird, ändert sich die Begrifflichkeit von "Notzucht" zu "Vergewaltigung" (in der deutschen Rechtsprechung 1973; in Österreich ändert sich 1974 die Rechtsprechung, der Begriff "Vergewaltigung" wird 1989 eingeführt).
... zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht?
"Vergewaltigung" wanderte mit der Bedeutung der "gewaltsamen Unterwerfung" durch die Jahrhunderte, gerät gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit, um etwa 100 Jahre später wieder aufzutauchen und sich erneut im Repertoire sprachlicher Praxis festzusetzen.

Damit ist auch seine Bedeutungskontinuität gewährleistet: Die Vorstellung vom gewaltsamen Eindringen in ein Kollektiv, konkretisiert am Weiblichen, bleibt erhalten, während der Raub aus dem Bedeutungsfeld der "Vergewaltigung" verschwindet.
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Zur Autorin und zur Publikation:
Bei dem Text handelt es sich um eine Kurzfassung des Artikels "Die Verletzung der Gemeinschaft. Zur Relation der Wort- und Ideengeschichte von 'Vergewaltigung'", der in der aktuellen Ausgabe der "Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften" mit dem Themenschwerpunkt "Bodies/Politics" (2004/01) erscheint.

Angela Koch, Dr. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin und arbeitet in den Bereichen Fremdheits-/Rassismus- und Genderforschung. Derzeit konzipiert sie eine Ausstellung zur Geschichte und Funktion der Migrantinnen und Migranten in München (1800 bis heute). Darüber hinaus bereitet sie ein Forschungsprojekt zur Geschichte der visuellen Repräsentation von sexueller Gewalt vor.
->   "Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften"
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->   Gegen Gewalt an Frauen (Frauenbüro der Stadt Wien)
->   Aktuelle Rechtslage in Deutschland
 
 
 
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01.01.2010