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"Das Böse denken": Eine Philosophiegeschichte des Bösen  
  Was ist das Böse? Kann es verstanden werden? Solche und ähnliche Fragen behandelt die amerikanische Philosophin Susan Neiman in ihrem aktuellen Buch "Das Böse denken". Sie untersucht darin, wie die großen Denker des Abendlandes den verschiedenen Ausformungen und Spielarten des Bösen begegnet sind. Herausgekommen ist dabei eine alternative Geschichte der Philosophie, die nicht zuletzt das Projekt der Moderne in ein neues Licht rückt.  
Natürliches und moralisch Böses

Als am 1. November 1755 ein Erdbeben die Stadt Lissabon zerstörte und Tausende Menschen dabei ums Leben kamen, erschütterte dies das ganze Abendland. Der damals sechs Jahre alte Goethe verlor wie viele andere seinen Glauben an einen allmächtigen, gütigen Gott.

Die großen Geister Europas - und nicht nur sie - reagierten mit einer Flut von Aufsätzen, Gedichten und Predigten auf das, was als "natürliches Böses" (malum physicum) bezeichnet wurde. Ganz anders 1945, als die Gräueltaten der Nazis weltweit bekannt wurden:

Die Intellektuellen reagierten spärlich und zurückhaltend. In Auschwitz erreichte das "moralische Böse" (malum morale) offenbar ein Ausmaß, das die Fassungskraft des Verstandes überstieg und das Denken lähmte.
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Susan Neiman: "Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie", Suhrkamp Verlag, 490 S.; 33,90 Euro, ISBN 3-518-58389-1
->   Das Buch bei Suhrkamp
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Lissabon und Auschwitz: Beginn und Ende der Moderne
Für die amerikanische Philosophin Susan Neiman, die in Potsdam das Einstein Forum leitet, markieren die intellektuellen Reaktionen auf Lissabon und Auschwitz den Beginn und das Ende der Moderne.

In ihrem neuen Buch "Das Böse denken" befasst sie sich mit der Frage: "Welchen Sinn hat es überhaupt, auf die Vernunft zu setzen angesichts eines Bösen, das aller Vernunft trotzt?"

Mit Recht kritisiert Neiman, dass die philosophische Geschichtsschreibung diese Frage missachtet und der Theologie überlassen hat, die trotz der Erfahrungen sinnlosen Leids an der Güte und Allmacht Gottes festhält. Dabei hat bereits Hegel erkannt, dass auch die Philosophie Theodizee ist.
"Eine andere Geschichte der Philosophie"
Im Problem des Bösen sieht Neiman die treibende Kraft der Moderne. Dieses Problem sei "besser als jede Alternative geeignet, zum Organisationsprinzip für das Verstehen der (neuzeitlichen) Philosophiegeschichte zu werden". Der Untertitel des sehr anregenden Buches lautet daher: "Eine andere Geschichte der Philosophie".
Zwei Strategien, mit dem Bösen umzugehen
Neiman teilt die Philosophen der vergangenen drei Jahrhunderte in ein grobes Schema ein: Die einen halten an der nackten, oft schauderhaften Realität der Erscheinungen fest (etwa Voltaire, Hume, Schopenhauer).

Die anderen setzen über die Erfahrung hinaus auf eine Ordnung und einen Sinn, mit dem das Böse erklärt und überwunden werden soll (Leibniz, Rousseau, Kant, Hegel, Marx).

Beide Positionen seien moralisch begründet und drückten einen Respekt gegenüber den Opfern der Geschichte aus, schreibt Neiman:

"Nicht die Furcht, dass die Welt anders sein könnte, als sie uns erscheint, nährte den Streit über den Unterschied von Erscheinung und Wirklichkeit; es war vielmehr die Furcht, dass sie genauso ist."
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Das Böse hat viele Gesichter
Die Autorin warnt davor, nach Definitionen oder "wesenhaften Eigenschaften" des Bösen zu suchen. Denn das Böse hat viele Erscheinungsformen. Sein Begriff hat sich im Laufe der Zeit drastisch gewandelt. Neiman untersucht mehr die Wirkungen des Bösen als ihre Ursachen: Wer etwas als böse bezeichne, bringe damit zum Ausdruck, "dass es unser Vertrauen in die Welt erschüttert".
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Adolf Eichmann: Die Banalität des Bösen
Am Beispiel Adolf Eichmanns kann die jüdische Autorin deutlich machen, dass die NS-Verbrecher nicht unbedingt besonders brutal, herzlos, gehässig und böse im herkömmlichen Sinn waren. Eichmanns Ziele "hatten zunächst nichts mit Massenmord und sehr viel mit kleinbürgerlichem Karrierismus zu tun".

Die Nazis erzeugten "mehr Böses mit weniger Bösartigkeit, als die Zivilisation es je gesehen hatte." Im Unterschied zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 habe Auschwitz gezeigt, dass selbst das schrecklichste Böse nicht mit einer bösen Absicht verbunden sein müsse.

Eichmann sei ein ehrlicher Mensch gewesen; er habe es als unangenehm empfunden, Leiden zu verursachen, und habe sich subjektiv kaum schuldig gefühlt.
Diagnose Sinnverlust
Schon Hannah Arendt hat erkannt, dass sich die ungeheuerlichsten Verbrechen von den gewöhnlichsten Leuten begehen lassen, deren Motive einfach nur banal sind. Neimans Fazit lautet daher:

"Das Problem des Bösen begann damit, dass Gottes Absichten durchschaut werden sollten. Nun scheint es, als würden wir nicht einmal aus unseren eigenen Absichten Sinn machen können."

Bernward Loheide, dpa
->   www.susan-neiman.de
 
 
 
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01.01.2010