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Der "Rainman" in uns: Verborgene Begabungen im Gehirn  
  Autisten weisen mitunter erstaunliche Sonderbegabungen auf, von denen der Normalsterbliche nur träumen kann: So zum Beispiel besondere mathematische Fähigkeiten, absolutes Gehör oder ein fotografisches Gedächtnis. Ein australischer Neurowissenschaftler vertritt die These, dass in jedem von uns solche Begabungen schlummern, sie würden lediglich von der "normalen" Denkweise überlagert. Erste Experimente zur Freilegung solch intellektueller Goldadern wurden bereits durchgeführt.  
Wie ein Forscherteam um Allan W. Snyder vom Centre for the Mind in Sydney berichtet, führt die gezielte Ausschaltung bestimmter Hirnregionen tatsächlich zu einer Veränderung von Denkprozessen, die jener der genialen Autisten ähnelt. Von einer per Knopfdruck ausgelösten Sonderbegabung ist man jedoch noch weit entfernt.
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Die Studie "Savant-like skills exposed in normal poeple by suppressing the left fronto-temporal lobe" von Allan W. Snyder et al. erschien im Fachmagazin "Journal of Integrative Neuroscience" (Band 2, S. 149).
->   Zum Originalartikel
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Geniale Autisten
Wer kennt sie nicht, die Geschichten über Autisten, die mit größter Selbstverständlichkeit über umfangreiche Kalenderdaten und Statistiken verfügen und diesbezügliche Fragen mit der Geschwindigkeit und Treffsicherheit eines Computers beantworten?

Solche Berichte gehören nicht ins Reich der urbanen Legenden: So genannte Inselbegabungen gibt es bei autistischen Personen tatsächlich, sie liegen meist im mathematischen, musikalischen oder zeichnerischen Bereich.

Allerdings sind sie entgegen populärer Vorstellungen relativ selten. Das heißt, nicht jeder, der an der - erstmals 1943 vom Psychiater Leo Kanner beschriebenen - Verhaltensstörung leidet, ist damit automatisch ein "savant". So nennt man jene Fälle, bei denen - trotz der meist verminderten Allgemeinintelligenz - augenscheinliche Sonderbegabungen auftreten.
->   FAQs zum Savant Syndrome (Wisconsin Medical Society)
Verdeckte Begabungen?
Das wirft die Frage auf: Was ist das Besondere an den Gehirnen solcher Personen? Die Standardinterpretation erklärt solche Leistungen anhand einer extremen Fokussierung der geistigen Kräfte auf wenige spezifische Intelligenzbereiche.

Es gibt aber auch eine ganz andere Theorie. Der australische Hirnforscher Allan W. Snyder ist der Meinung, dass in jedem von uns solch latente Begabungen ruhen, nur kommen sie eben im Alltag nicht zum Vorschein.
->   Autismus bei Wikipedia
Fähigkeiten durch Gehirn-Verletzung
Anlass für die Bildung dieser Phantomhypothese sind Berichte in der einschlägigen Literatur, denen zufolge Personen nach unfallbedingten Schädigungen des Gehirns oft ungewöhnliche Fähigkeiten entwickelt haben.

Legende ist etwa der Bericht über ein Kind, das nach einem Unfall schlagartig ein außerordentliches Gedächtnis für Kalendertage und Musik ausbildete.
Spezifische Hirnregion betroffen
Ähnliche Fälle kennt man auch bei älteren Patienten, die an einer bestimmten Demenzerkrankung leiden.

Bruce Miller von der University of California hat als erster herausgefunden, dass bei dieser Krankheit vor allem ein Bereich auf der vorderen linken Seite des Gehirns betroffen ist, nämlich der so genannte Frontotemporallappen.

Bei den erwähnten Unfallopfern, so stellte sich später heraus, wurde ebenfalls die linke Hirnhälfte in Mitleidenschaft gezogen. Am wichtigsten ist jedoch: Eine verbreitete Theorie zur Entstehung des Autismus geht von hormonbedingten Schädigungen der linken Hemisphäre im Zuge der Embryonalentwicklung aus, die später von der rechten Hälfte ausgeglichen wird.
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Rechte Hirnhälfte kompensiert
In das cerebrale Hemisphären-Einmaleins passen diese Befunde recht gut: Denn die rechte, kompensierende Hirnhälfte ist stark an abstrakten oder musikalische Denkvorgängen beteiligt - genau jene Kategorie, in die auch die festgestellten Sonderbegabungen fallen.
->   Mehr zur Hemisphären-Spezialisierung (Uni Bamberg)
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"Etwas, das wir alle besitzen"
Grund genug für Allan Snyder, folgenden Schluss daraus zu ziehen: "Die Menschen, die diese ungewöhnlichen Fähigkeiten aufweisen, haben sie aufgrund der Hirnschädigungen. Unsere Theorie besagt, dass sie durch diese Schädigungen zu etwas Zugriff erlangt haben, das wir alle besitzen", so der Forscher gegenüber der Zeitschrift "New Scientist".
Theorie: Konzeptuelles Denken bei Autisten gebremst
Seine Theorie sieht in groben Zügen folgendermaßen aus: Autisten verfügen über eine ungefilterte Informationsverarbeitung und werden mit den Details der Wahrnehmung gleichsam überschwemmt, weil es ihnen an konzeptuellen Denkmustern fehlt.

Im Normalfall bestimmen diese nämlich aufgrund von Vorerfahrung und Kategorienbildung, was wir sehen - und vor allem: was wir nicht sehen. Bei Autisten sei hingegen dieser Filter weitgehend außer Kraft gesetzt, weshalb sie bisweilen einen erstaunlichen Blick für Details entwickeln.
Experiment: Hirnregion mittels Magnetfeld lahmgelegt
Eine Theorie muss sich letztlich im Experiment überprüfen lassen - und das haben kürzlich Snyder und Mitarbeiter auch getan. Sie bedienten sich dabei der so genannten transkraniellen Magnetstimulation, eine Technik, bei der ein starkes Magentfeld an die Hirnrinde angelegt wird.

Damit können u.a. bestimmte Regionen kurzfristig inaktiviert werden. Die australischen Forscher legten auf diese Weise bei elf Freiwilligen den linken Frontotemporallappen lahm und unterzogen sie vor bzw. nach der Prozedur verschiedenen Tests.
Denkleistungen veränderten sich
Bei einigen Probanden zeigte sich tatsächlich ein Effekt: Sie fanden versteckte Fehler in einem geschriebenen Text, die davor ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren. Bei manchen änderte sich auch der Zeichenstil: Er wurde zwar nicht unbedingt besser, aber naturgetreuer.

Darüber hinaus berichteten einige Probanden auch von veränderten Wahrnehmungszuständen, bei denen Details eine größere Rolle zu spielen schienen.
"Wir müssen den Rainman in uns nur trainieren"
Diese Befunde werden vermutlich noch nicht ausreichen, um Snyders Theorie in der Forschergemeinde zur allgemeinen Akzeptanz zu verhelfen.

Ganz alleine ist der australische Hirnforscher mit seiner Ansicht indes nicht: Schützenhilfe erhält er etwa vom Psychologen Niels Birbaumer von der Universität Tübingen. Der meinte kürzlich gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit": "Jeder ist ein Savant. Wir müssen den Rainman in uns nur trainieren."

Robert Czepel, science.ORF.at
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Literatur-Tipp
Dem Thema Savant-Syndrom widmet sich auch der Artikel "The genuis machine" von Helen Phillips im Fachmagazin "New Scientist" (Ausgabe vom 3.4.04, S.30-33).
->   New Scientist
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->   Centre for the Mind, Sydney
->   Universität Tübingen
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01.01.2010