News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Europa und Amerika: Die Chance in der Krise  
  Um die Beziehung zwischen großen Teilen Europas und den USA steht es derzeit nicht eben zum Besten. Noch dramatischer sieht der britische Historiker Timothy Garton Ash die Situation. Für ihn befindet sich der gesamte - geopolitische - Westen in einer großen Krise. Kritisch geht Garton Ash dabei vor allem mit der antiamerikanischen Haltung vieler Europäer ins Gericht. Eine gemeinsame, gesamteuropäische Identität lasse sich auf diese Weise nicht herstellen. Doch die Lage ist nicht aussichtslos, folgt man dem Historiker - denn die Krise birgt auch eine Chance für die Zukunft.  
Unter dem Titel "Europe and America. The Chance of the Crisis" sprach Timothy Garton Ash im Frühjahr 2004 im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).
...
"Free World": Das neue Buch von Timothy Garton Ash
Thema des Vortrags vom 23. April 2004 war gleichzeitig auch das Thema des neuen Buches von Timothy Garton Ash. Es erschien unter dem Titel "Free World. Why a crisis of the West reveals the opportunity of our time" im Juli auf Englisch bei Penguin, die deutsche Ausgabe im September im Hanser-Verlag.
->   Mehr über das Buch (Hanser-Verlag)
...
Beginn der Krise: Fall der Berliner Mauer
Die Krise, sagt Timothy Garton Ash, ist offensichtlich - aber worin liegt die Chance? Doch zunächst zur Chronologie der von ihm beschworenen "großen Krise des Westens".

Für Timothy Garton Ash hat sie am 9. November 1989 ihren Ausgang genommen. Mit dem Fall der Berliner Mauer hat der Westen demnach den ihn definierenden Feind verloren: den "Sowjet Block", der als gemeinsamer Gegner Westeuropa und Nordamerika zusammen gehalten habe.
Machtverschiebung zugunsten der USA
Damit sei ein Aspekt deutlich geworden, den Garton Ash als "Machtverschiebung" bezeichnet - von Europa hin zu den Vereinigten Staaten: Die militärische ("hard power") wie kulturelle ("soft power") Überlegenheit der USA, die erst mit dem Wegfall des gemeinsamen Feindes offensichtlich geworden sei.
...
Politische Bedeutung durch den Kalten Krieg
Wie der Historiker ausführt, war Europa als die "zentrale Bühne des Kalten Krieges" politisch von Bedeutung. Doch der Eiserne Vorhang fiel - und damit auch jene Bedingungen, die Europa geopolitische Bedeutung garantierten. Zudem entdeckten die USA - lange Zeit auch durch einen "kulturellen Minderwertigkeitskomplex" gegenüber Europa geprägt - ein neues, auch kulturelles Selbstbewusstsein. Garton Ash verweist etwa auf die hohe Qualität der amerikanischen Universitäten.
...
EU-Erweiterung: Wohin geht Europa?
Neben Mauerfall und Machtverschiebung ist auch ein derzeit hochaktuelles Thema ein Punkt in der Argumentation von Timothy Garton Ash: die Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedsstaaten.

"Mit der Erweiterung wird Europa konfrontiert mit seiner eigenen radikalen Unbestimmtheit", so der Historiker.

Gemeint ist die - bislang erfolglose - Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität, welche die mit 1. Mai 2004 auf 25 Länder angewachsene EU einen soll.
Identität in Abgrenzung vom "Anderen"
Die Definition von Identität habe traditionell die Abgrenzung von einem Gegenüber bedeutet, doch weder "Ostblock" noch gar Islam - "kompletter Unsinn" nach Garton Ash, der schlicht auf die Millionen Muslime innerhalb Europas verweist - taugen heute dafür.
Das neue Feindbild Amerika
Was aber bleibt übrig als für die Identitätsstiftung taugliches Feindbild? Die Antwort für viele lautet Amerika, meint Garton Ash - und kritisiert insbesondere die von prominenten europäischen Intellektuellen, allen voran Jürgen Habermas und Jacques Derrida, geforderte außenpolitische Erneuerung Europas.

Das sei "ein fast schon klassischer Text" - zu einer Definition von Europa in Abgrenzung zu den USA.
->   Habermas, Derrida & Co fordern Erneuerung Europas (30.5.03)
9/11 und die Abwehr-Haltung der USA
Die Chronologie der Krise aber ist auch damit noch nicht zu Ende, weiter geht es mit dem unter "9/11" bekannten terroristischen Angriff auf die USA. Europa habe zwar Solidarität mit Amerika demonstriert - doch die Regierung unter George Bush habe darauf ablehnend reagiert. Der auf den Angriff folgende Unilateralismus der USA hat demnach die Krise weiter verstärkt.

Und noch eine Ingredienz der Krise nennt Garton Ash: die offensichtliche Führungsschwäche Europas.
...
Informationen zu Timothy Garton Ash
Timothy Garton Ash - 1955 in London geboren - hat an der University of Oxford neuere Geschichte studiert. 1978 kam der Historiker nach Berlin und verbrachte mehrere Jahre in West- sowie in Ost-Berlin. In den 1980er Jahren arbeitete er einige Zeit als Kommentator für die "Times" und die Auslandsredaktion des "Spectator". Der Historiker leitet heute das European Studies Centre am Saint Antony's College in Oxford. Seit 1990 schreibt er regelmäßig - unter anderem für "The New York Review of Books". Bekannt wurde Timothy Garton Ash auch als Autor zahlreicher Bücher, die sich kritisch mit der jüngeren Geschichte Europas befassen.
->   Weitere Informationen zu Timothy Garton Ash (www-hoover.stanford.edu)
...
Die Krise als Chance begreifen
Garton Ash will nun die Krise selbst als Chance begriffen haben. Denn, wie er sagt: "Erst die Krise hat beleuchtet, wo die Probleme liegen." Und zwar Probleme, "die seit November 1989 schon im Verborgenen lagen".
EU kontra USA: Abgrenzung fraglich
Einige Bereiche hat der Historiker zwar doch identifiziert, in denen sich Europa und die USA tatsächlich voneinander unterscheiden. Etwa die Religion, im Durchschnitt seien die US-Amerikaner sehr viel religiöser als die Europäer.

Weiteren Punkte auf der Liste: Wohlfahrtsstaat, Umwelt oder auch Waffenrecht und Todesstrafe. Doch die Unterschiede seien viel kleiner, als man gemeinhin glaube, so Garton Ash.

Vielmehr sind die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern - beispielsweise im Gesundheitswesen - enorm, argumentiert der Historiker. Und: "Mit der Erweiterung werden diese Unterschiede noch größer."
Die "europäischen Werte" - eine Illusion
Dementsprechend skeptisch sieht Garton Ash die Idee eines unter gemeinsamen Werten vereinten Europas: Jene "unverkennbare Reihe von europäischen Werten, die die Europäer miteinander teilen" sei unmöglich zu identifizieren. Denn es gebe solche Werte nicht, die nicht auch von Nordamerikanern geteilt würden.

Das Problem nach Garton Ash ist allerdings: "Die Tatsache, dass etwas empirisch nicht wahr ist, bedeutet nicht, dass es politisch nicht sehr wichtig sein kann."

Mit anderen Worten: Auch wenn diese unverkennbaren europäischen Werte so nicht existieren, könnte sich Europa dennoch genau darüber zu definieren versuchen - in Abgrenzung zu den USA. Für Garton Ash ist das eine Art "emotionaler Klebstoff", bei dem es sich nicht um harmlosen Patriotismus handelt, sondern um "reinen europäischen Nationalismus".
...
Amerika als "zutiefst geteilte" Nation
Woran Timothy Garton Ash in diesen Zusammenhang vor allem auch erinnert, ist die Tatsache, dass Amerika selbst derzeit "zutiefst geteilt" ist. Es gebe eine wachsende Kluft zwischen dem blue America - den Liberalen bzw. den Demokraten - und dem red America - den Konservativen, den Republikanern.

Die Demokraten aber seien den Europäern in ihren Haltungen sehr ähnlich. Ablesbar auch an den zunehmenden Attacken der Neokonservativen gegen Politiker wie John Kerry, die als "europäisch" oder "Europäer" diffamiert werden.
->   Mehr dazu: John Kerry's French connection (www.spinsanity.org)
...
Die Herausforderungen für die Zukunft
Um Westeuropa und Amerika wieder zu einen, braucht es ein gemeinsames Ziel - der amerikanische "war on terror" etwa "teilt mehr als er eint", wie Garton Ash feststellt.

Sein Vorschlag ist ein Blick in die Zukunft: Wo liegen die Herausforderungen für die kommenden 20 Jahre, denen sich Europa und die USA gemeinsam stellen müssen?, fragt er.
Asien als neuer Akteur der Weltpolitik
Und er malt ein Zukunftsszenario, in dem weder Europa, noch die USA weltpolitisch die Vormachtstellung innehaben. Vielmehr verweist er auf das enorme wirtschaftliche Wachstum in Asien, in China und Indien etwa.

Asien wandelt sich demnach vom "Objekt der Weltgeschichte" zum Subjekt, zum geopolitisch bedeutsamsten Akteur.
Eine neue Verschiebung der Macht
Diese neue Verschiebung der Macht, wie sie Garton Ash kommen sieht, lässt Europa und den USA etwa 20 Jahre Zeit, sich darauf vorzubereiten. Das "riesige, überwältigende gemeinsame Interesse für USA und Europa" ist es demnach, die Weichen für dieses Szenario zu stellen.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
->   Beiträge von Timothy Garton Ash für "The New York Review of Books"
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Ursachen für den wachsenden "Anti-Europeanism" in den USA (28.1.03)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010