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Psychologen verfeinern kognitive Entwicklungstheorie  
  Bisher unbekannte Zwischenschritte der kognitiven Entwicklung haben Wiener Bildungspsychologen identifiziert. Ging man bisher davon aus, dass sich das kognitive Denken in vier Stadien entwickelt, konnte man nun nachweisen, dass es zwischen den beiden letzten Stufen deutlich erkennbare Übergangsstadien gibt.  
Auf Basis der Studie hat ein Team um Christiane Spiel vom Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation am Institut für Psychologie der Universität Wien ein Testinventar entwickelt, das eine Messung der Leistung im schlussfolgernden Denken erlaubt. Dies erlaubt wiederum Rückschlüsse auf die kognitive Entwicklung.
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Die kognitive Entwicklung nach Piaget
Nach den Erkenntnissen des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) erfolgt die Entwicklung des kognitiven Denkens in vier Stadien, wobei ein Kind ab dem Schulalter sein anschaulich-praktisches Denken zu Gunsten eines "konkret-operatorischen" und später eines "formal-operatorischen" Denkens überwindet.
->   Mehr dazu (Uni Bielefeld)
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Nicht jeder vollzieht letzten Entwicklungsschritt
Vor allem der Übergang zwischen diesen beiden letzten Stadien, der nicht von allen Menschen vollzogen wird, stellt einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung des schlussfolgernden Denkens dar, erklärte Spiel im Gespräch mit der APA.
Schlussfolgerndes Denken toleriert "sinnlose" Annahmen
Das Stadium des "formal-operatorischen" Denkens zeichnet sich u.a. durch die Fähigkeit aus, Annahmen zu akzeptieren, auch wenn diese der bisherigen Erfahrung widersprechen. Eine solche Annahme wäre zum Beispiel: "Wenn es Abend ist, geht die Sonne auf."

Während in frühen kognitiven Entwicklungsstadien eine solche Annahme sofort als Unsinn zurückgewiesen wird, können "formal-operatorische Denker" diesen Satz als gegeben annehmen und systematisch Konsequenzen durchspielen, erklärte Spiel.
Fähigkeit wichtig für Berufsleben
Diese Fähigkeit des Denkens ist nicht nur in Schulfächern wie Mathematik, Physik oder Chemie, sondern auch im Berufsleben wichtig, beispielsweise in der Wissenschaft, um Hypothesen aufstellen und prüfen zu können.

Aber auch in anderen Berufsfeldern werden solche Fähigkeiten benötigt, etwa um Planspiele durchzugehen oder für komplexe Entscheidungssituationen.
Übergang vollzieht sich in Zwischenschritten
An Hand von Tests mit mehr als 400 Gymnasiasten von der dritten bis zur achten Klasse AHS zeigte das Team bestehend aus Christiane Spiel, Judith Glück und Heimo Gößler, dass der Übergang zum formal-operatorischen Denken in kleineren Schritten erfolgt als bisher angenommen.

Die Wissenschaftler haben dabei eindeutig zwei Übergangsstadien feststellen können. Im Vergleich mit der Mathematiknote zeigte sich, dass die Leistungen umso besser sind, je höher das erreichte Entwicklungsstadium ist.
Die Testsituation
Getestet wurde dabei mit so genannten konditionalen Syllogismen. Das sind Sätze wie "Wenn die Sonne scheint, zieht Michaela ein rotes T-Shirt an", wobei dann nach verschiedenen Teilen dieser Prämisse gefragt wird.
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Konditionale Syllogismen
Beispiele dafür sind etwa:
- Die Sonne scheint. Zieht Michaela ein rotes T-Shirt an?
- Die Sonne scheint nicht. Zieht Michaela ein rotes T-Shirt an?
- Michaela zieht ein rotes T-Shirt an. Scheint die Sonne?
- Michaela zieht kein rotes T-Shirt an. Scheint die Sonne?
->   Syllogismus bei Wikipedia
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Abstraktion erschwert Schlussfolgerungen
Immer schwieriger wird die Lösung solcher Fragen, wenn dabei abstrakten Situationen im Spiel sind ("Wenn X nach A reist, fährt er durch B") oder Sätze gewählt werden, die der Lebenserfahrung widersprechen ("Wenn es Abend ist, geht die Sonne auf") - wobei die Lösungswahrscheinlichkeit mit Entwicklungsfortschritten im schlussfolgernden Denken steigt.
Ergebnisse könnten schulisches Scheitern erklären
Die Ergebnisse der Studie können auch eine Erklärung für das Scheitern ganzer Klassen bei bestimmten Aufgabenstellungen in der Schule liefern.

Immer wieder kommt es vor, dass der Großteil der Schüler einer Klasse einen gerade durchgenommenen Lehrstoff, beispielsweise in Mathematik, nicht versteht. "Ein Grund dafür kann sein, dass die Kinder einfach noch nicht die kognitive Kompetenz dafür haben", so die Bildungspsychologin.

Würde man die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie verstärkt im Schulunterricht beachten, könnten sich Lehrer und Schüler viel Frustration ersparen, "da ist noch viel Entwicklungspotenzial drinnen", sagte Spiel.

Eine systematische Verschränkung zwischen Entwicklungstheorien und Lehrplänen wäre daher wünschenswert.
->   Uni Wien: Bildungspsychologie & Evaluation
->   Beiträge von Christiane Spiel in science.ORF.at
->   Mehr zum Thema Kognition in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010