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Einsteins Formeln: Von Kugeln, Motten und betrunkenen Wanderern  
  1905, im wohl produktivsten Jahr seiner wissenschaftlichen Karriere, veröffentlichte Albert Einstein drei Aufsehen erregende Arbeiten, von denen vermutlich jede einzelne nobelpreiswürdig gewesen wäre. Eine davon war eine Studie, die das Phänomen der so genannten Brownschen Molekularbewegung auf ein stabiles physikalisches Fundament stellte. Die Arbeit war jedoch nicht nur in physikalischer Hinsicht richtungsweisend - sie findet bis heute auch in ganz anderen Disziplinen wie etwa Medizin und Anthropologie Anwendung.  
Wie Gero Vogl vom Institut für Materialphysik der Uni Wien betont, lässt sich mit Einsteins Gleichungen nämlich nicht nur die Diffusion in Flüssigkeiten oder Festkörpern erklären:

Seine Formeln eignen sich überraschenderweise auch für die Beschreibung der Wanderungen jungsteinzeitlicher Ackerbauern oder etwa die Ausbreitung der Miniermotte in Europa.
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Der Vortrag "Einsteins betrunkener Wanderer. Von der Diffusion in der Physik zur Ausbreitung von Pflanzen, Tieren, Menschen und Ideen" von Gero Vogl findet am Samstag, den 15.5.04, im Rahmen der "Science Week" statt. Ort: MUMOK-Hofstallungen des Wiener Museumsquartiers; Zeit: 15-16 Uhr.
->   Mehr zur Veranstaltung (www.scienceweek.at)
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Launiger Leserbrief
Im Jahr 1905 schrieb der britische Statistiker Karl Pearson einen Leserbrief an das Fachmagazin "Nature". Darin formulierte ein kleines Rätsel und bat die Leser der Zeitschrift um Antwort:

Was geschieht, so seine Frage, wenn ein Betrunkener eine bestimmte Strecke in eine Richtung wankt, sich willkürlich dreht, in eine andere Richtung weitergeht, sich wieder dreht usw.?

Was Pearson meinte: Kann eine so zufällige Ortsveränderung auf mathematische Weise befriedigend beschrieben werden? Pearson fügte seinem Leserbrief noch eine launige Anmerkung hinzu: Ein solcherart Betrunkener werde vermutlich nicht weit kommen, so die Vermutung des Statistikers. Wie weit, konnte er allerdings nicht sagen.
->   Mehr zu Karl Pearson (University of St Andrews)
Der Lösung so nah¿
Hätte Pearson zufällig zwei Monate davor die damals führende Zeitschrift "Annalen der Physik" aufgeschlagen, wäre er auf die Lösung genau dieses Problems gestoßen. Der Autor des Artikels: Ein 26-jähriger, unbekannter Physiker mit dem Namen Albert Einstein.
Robert Browns Entdeckung: Mikroskopisches Zittern
Szenenwechsel, knapp 80 Jahre davor: Im Jahr 1827 saß der schottische Botaniker Robert Brown über sein Mikroskop gebeugt und analysierte die Pollen einer Pflanze.

Dabei fiel ihm auf, dass die kleinen Pflanzenteile einer unregelmäßigen Bewegung unterworfen waren. Brown deutete dies zunächst als Äußerung der Vitalität belebter Materie, das Zittern blieb jedoch auch bestehen, wenn er die Sporen gegen anorganische, mikroskopische Partikel austauschte.

Letztlich kam Brown zu dem Schluss, dass es sich dabei nicht um ein biologisches, sondern vielmehr um ein physikalisches Phänomen handle.
Eine Antwort für zwei Probleme
Sowohl für Robert Browns Beobachtung, als auch für Pearsons Problem wurde in Einsteins Studie von 1905 eine Antwort gegeben. Sie trägt den eher unattraktiven Titel: "Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen".
->   Zum Originaltext (pdf-File)
->   Anschauungsmaterial zur Brownschen Bewegung (www.eduhi.at)
Bezug auf Boltzmanns Theorie der Gase
Einstein nahm in seiner elf Seiten langen Arbeit auf die kinetische Gastheorie des österreichischen Physikers Ludwig Boltzmann Bezug, in der Wärme als mikroskopische Bewegung gedeutet wurde.

Damit verbunden war auch die - damals noch völlig unbewiesene - Annahme, dass Materie aus kleinsten Teilchen, den Atomen bestehe.

Einstein gestand zu, dass die Wärmebewegung der Atome zwar für das menschliche Auge unsichtbar sein müsse. Er meinte aber, dass sich diese Bewegung auch auf größere Objekte übertrage. Und dies sollte sich wiederum durch ein - im Mikroskop sichtbares - unregelmäßiges Zittern äußern.
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Der betrunkene Wanderer kommt nicht besonders weit
Seine Untersuchung ergab zweierlei. Zum einen gelang ihm eine elegante Beschreibung der Bewegung von mikroskopischen Kügelchen in einer Flüssigkeit. Kennt man die physikalischen Bestimmungsstücke der Flüssigkeit und den darin befindlichen Teilchen (Temperatur, Zähigkeit, Kugelgröße), so Einstein, dann ist die Wanderstrecke der Kügelchen lediglich proportional der Wurzel aus der abgelaufenen Zeit. Karl Pearson war also in gewisser Hinsicht mit seiner Vermutung nicht so falsch gelegen.
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Nagelprobe für die Atomtheorie
Die Studie war zudem eine echte Nagelprobe für die Atomtheorie: "Erwiese sich die Voraussage dieser Bewegung als unzutreffend, so wäre damit ein schwerwiegendes Argument gegen die molekularkinetische Auffassung der Wärme gegeben", heißt es dazu in der Arbeit von 1905.

Einstein und Boltzmann sollten Recht behalten: Die Voraussage wurde einige Jahre später im Experiment bestätigt und gilt heute als Grundlage der so genannten Diffusion. Von der Realität der Atome ist man mittlerweile ebenfalls restlos überzeugt.
->   Mehr zur Diffusion bei Wikipedia
Neolithische Wanderungen
 
Bild: G.Vogl/E.Lenneis

Gero Vogl, der von Berufs wegen mit Einsteins Gleichungen bestens vertraut ist, betont im Gespräch mit science.ORF.at, dass sie sich erstaunlicherweise auch auf Phänomene aus ganz anderen Fachgebieten anwenden lassen:

So etwa bei der Einwanderung von jungsteinzeitlichen Ackerbauern aus dem Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes nach Europa.

Der italo-amerikanische Genetiker Luigi Cavalli-Sforza und sein Fachkollege A.J. Ammermann haben in den 1970er-Jahren die Wanderungsbewegung unserer Vorfahren mit einer modifizierten Diffusionsgleichung berechnet. Die Ergebnisse sind frappierend, stimmen sie doch mit archäologischen Daten gut überein.
->   Mehr dazu: The Origins of Agriculture (www.comp-archaeology.org)
Ausbreitung der Pest im Mittelalter
Bild: Nature
Eine ähnliche Anwendung fand J.V. Noble im Jahr 1974, der die mittelalterliche Ausbreitung der Pest quer durch Europa ebenfalls mit den Methoden der Diffusionstheorie beschrieb.

Auch hier kommt Einstein zu posthumer Ehre: Die in "Nature" veröffentlichte Studie deckt sich sehr gut mit epidemiologischen Aufzeichnungen.

Freilich handelt es sich bei diesen Anwendungsbeispielen nicht um Diffusion im eigentlichen Sinn. Aber Bewegungsmuster, die von zufälligen Faktoren abhängen, können offensichtlich mit dem mathematischen Vokabular behandelt werden, das ursprünglich für die Welt der Atome entwickelt wurde.
Miniermotte im Diffusionsmodell
 
Bild: G.Vogl/M.Gilbert

Last but not least wurde auch die Wanderung der Miniermotte, die 1985 am Ohridsee ihren Ausgang nahm, erfolgreich auf diese Weise dargestellt. Das an Kastanienbäumen parasitierende Insekt hat seitdem Zentraleuropa gleichsam überrannt und ist mittlerweile bei den die britischen Inseln angelangt.

Der Ökologe M. Gilbert hat diesen Ansatz kürzlich in Modelle integriert, die das Ausbreitungsmuster der Motte in Deutschland beschreiben. Ein Zeichen dafür, dass Einsteins Ideen auch heute noch so lebendig sind, wie in seinem annus mirabilis von 1905.

Robert Czepel, science.ORF.at
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Die Studie "Long-distance dispersal and human population density allow the prediction of invasive patterns in the horse chestnut leafminer Cameraria ohridella" von M. Gilbert et al. erschien im Fachblatt "Journal of Animal Ecology" (Band 73, S.459¿468).
->   Zum Original-Abstract
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->   Website von Gero Vogl (Uni Wien)
Weitere Links zu Albert Einstein
->   Einsteins Wunderjahr 1905 (Johns Hopkins University)
->   Einstein Archives Online
->   Das Stichwort Einstein im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010