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Gentests zeigen: Migration verbreitete Landwirtschaft  
  Die Entstehung der Landwirtschaft ist eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit. Umstritten ist allerdings, auf welche Weise sich Ackerbau und Viehzucht in den vergangenen 10.000 Jahren weltweit verbreitet haben - durch massive Wanderungsbewegungen von Bauern oder über die kulturelle Weitergabe der neu erworbenen Fähigkeiten von Generation zu Generation, ohne dass Migration dabei eine entscheidende Rolle gespielt hätte. Forscher haben nun durch genetische Tests in Südindien nachgewiesen, dass sich - zumindest dort - die Landwirtschaft über eine erhebliche Migration ausgebreitet hat.  
Die Wissenschaftler um Richard Cordaux vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben für ihre Studie die DNA verschiedener Bevölkerungsgruppen in Südindien untersucht. Ihre Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift "Science" erschienen.
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Der Artikel ist unter dem Titel "Genetic evidence for the demic diffusion of agriculture to India" in "Science" erschienen ( Bd. 304, Seite 1125, Ausgabe vom 21. Mai 2004; doi:10.1126/science.1095819).
->   Der Artikel im Volltext (kostenpflichtig)
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Migration oder doch kulturelle Prozesse?
Im Rahmen der so genannten neolithischen Revolution wurde der Mensch einst sesshaft - und ging zu Ackerbau und Viehzucht über. Diese Entwicklung gilt als ein Schlüsselereignis in der Kulturgeschichte des Menschen, trug sie doch zur Entstehung moderner Gesellschaftstypen bei.

Doch welche Prozesse waren an der weltweiten Verbreitung der Landwirtschaft in den letzten 10.000 Jahren maßgeblich beteiligt? Dazu gibt es zwei Hypothesen: Ausbreitung über Migration oder über kulturelle Prozesse.
Verschiedene Bevölkerungsgruppen im Vergleich
Um festzustellen, welche der beiden Hypothesen korrekt ist, haben die deutschen Wissenschaftler gemeinsam mit Forschern der Bharathiar University in Coimbatore/Indien die genetische Variation von verschiedenen Gruppen verglichen:

Untersucht wurden traditionelle Bauern, Jäger und Sammler sowie "neue" Bauern, die ursprünglich Jäger und Sammler waren und dann zur Landwirtschaft übergegangen waren.
Verwandtschaftsgrad sollte Lösung liefern
Die These der Forscher: Hat sich der Ackerbau über die Migration verbreitet, sollten die "neuen" mit den traditionellen Bauern genetisch enger verwandt sein als mit Jägern und Sammler.

Erfolgte die Verbreitung der Landwirtschaft hingegen nicht durch Migration, so müssten die "neuen" Bauern eher den Jägern und Sammlern genetisch ähneln.
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Warum ist dies in Europa schwieriger?
Derartige genetische Analysen in Europa führen zu widersprüchlichen Ergebnissen, weil es in Europa weder eine Population gibt, die nicht Landwirtschaft betreibt, noch die genetische Beschaffenheit einer vor-landwirtschaftlichen europäischen Bevölkerung bekannt ist. In Indien hingegen gibt es heute noch sowohl Gruppen, die keine Landwirtschaft betreiben, als auch solche, die erst kürzlich zur Landwirtschaft übergegangen sind, so dass die Forscher dort der Frage "Migration contra kulturelle Verbreitung" im Detail nachgehen konnten.
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Traditionelle Bauern kontra Jäger und Sammler
Mitglieder einer entsprechenden Kaste können in diesem Kontext als traditionelle Bauern betrachtet werden, weil sie Schlüsselinnovationen (wie z.B. die Verarbeitung von Eisen) eingeführt haben, die die Expansion der Landwirtschaft nach Südindien erleichtert hat.

Weiterhin gibt es in Südindien auch Volksstämme, die als Ureinwohner der Region betrachtet werden und von jeher Jäger und Sammler waren. Einige von ihnen leben heute noch als Jäger und Sammler oder betreiben Handarbeit, während andere in den letzten 3.000 Jahren zur Landwirtschaft übergegangen sind.
Y-chromosomale DNA unter der Lupe
Um genetische Ähnlichkeiten zwischen den Bevölkerungsgruppen feststellen zu können, haben Cordaux und sein Team die Y-chromosomale DNA von 583 Männern untersucht, darunter 71 südindische Jäger und Sammler, 60 südindische "neue" Bauern sowie 283 südindische und 169 nordindische traditionelle Bauern.

Bei ihrer Analyse fanden die Forscher schließlich heraus, dass die südindischen "neuen" Landarbeiter tatsächlich bedeutend enger mit den traditionellen Landarbeitern verwandt sind als mit den Jägern und Sammlern.

Zudem untersuchten die Forscher auch die Sequenzen mitochondrialer DNA (mtDNA) von 632 weiteren Personen - und wieder wurde festgestellt, dass südindische "neue" Bauern bedeutend näher mit traditionellen Bauern verwandt sind als traditionelle Jäger und Sammler.
Väterliche gleich mütterlicher Abstammungslinie
Beide Gen-Analysen in Südindien zeigen demnach, dass Gruppen, die von einem Leben als Jäger und Sammler zu dem eines Bauern übergegangen sind, genetisch näher mit traditionellen Bauern verwandt sind - und das sowohl in ihrer väterlichen als auch in ihrer mütterlichen Abstammungslinie.
Bäuerliche Migration als Lösung - in Südindien
Hieraus aber schließen die Forscher, dass die Verbreitung der Landwirtschaft - zumindest in Südindien - sowohl von einem väterlichen als auch einem mütterlichen Genfluss begleitet war. Mit anderen Worten: von einer Migration von Menschen.

Diese Befunde unterstreichen nach Ansicht der Forscher zudem, welche Bedeutung kulturelle Prozesse wie die Verbreitung der Landwirtschaft für die Entstehung genetischer Variation beim Menschen haben, heißt es dazu abschließend in einer Aussendung.
->   Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
->   Bharathiar University
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Der Mensch wurde schnell zum Fleischesser (21.10.03)
->   Bauern des mittleren Ostens "zivilisierten" Europa (6.8.02)
 
 
 
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01.01.2010