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Die Zellen, die uns menschlich machen  
  Ein US-Forscher glaubt, den Schlüssel zur Frage gefunden zu haben, was den Menschen so einzigartig macht - und es ihm erlaubt, innerhalb eines hochkomplexen sozialen Umfeldes zu agieren. Demnach sind spezielle Neuronen, die in geringer Anzahl lediglich im menschlichen Gehirn und - noch rarer - auch bei einigen Menschenaffen zu finden sind, die Lösung. Sie sollen, so die These, die neurologische Basis für so "menschliche Eigenschaften" wie Liebe, Schuld und Empathie bilden.  
John Allman geht am renommierten California Institute of Technology in Pasadena einer vergleichsweise altmodischen Disziplin nach: Er widmet sich der Histologie - und untersucht via Mikroskop feinste Gewebeschnitte.

Was nicht eben aufregend klingt, lässt ihn nun jedoch glauben, den Schlüssel zur Menschlichkeit gefunden zu haben. Ein Artikel im aktuellen "New Scientist" beleuchtet seine Forschungen.
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Der Artikel von Helen Phillips erscheint unter dem Titel "The Cell that makes us human" in "New Scientist", Ausgabe vom 18. Juni 2004.
->   "New Scientist"
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Was macht den Menschen zum Menschen?
Der Mensch unterscheidet sich nicht nur äußerlich deutlich von anderen Primaten sowie der restlichen Tierwelt: Gerne angeführt werden auch Sprache, das große Gehirn sowie ganz allgemein die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Menschen.

Doch das Gehirn von Homo sapiens ist - abgesehen von der Größe - dem seiner nahen Verwandten relativ ähnlich. Was also unterscheidet uns von Schimpansen, Gorillas und Co, ganz zu schweigen von den übrigen Säugetieren?
"Soziale Emotionen" wie Liebe und Schuld
Im Blickpunkt von John Allman liegen unsere komplexen "sozialen Emotionen", die den Menschen deutlich vom größten Teil der Tierwelt trennen: die Fähigkeit zu lieben, Empathie oder Schuld zu verspüren etwa.
Intuition statt logischem Denken
Folgt man der Argumentation des Forschers, so handelt es sich um Urteile, die nicht mithilfe von Logik getroffen werden, sondern durch eine Art von schnell arbeitender Intuition zustande kommen. Sie erlaubt es dem Menschen demnach, in der "komplexesten aller sozialen Umgebungen" auf Erden zu funktionieren.
Einzigartige Spindelzellen als Basis
Was nun diese Form der sozialen Intuition so besonders macht, ist nach Allman die Tatsache, dass sie auf Gehirnzellen zu beruhen scheint, die beschränkt sind auf höhere Primaten wie den Menschen.

Bei den mysteriösen Zellen handelt es sich um so genannte Spindelzellen, die in den späten 1990er Jahren von einer jungen Wissenschaftlerin vom Mount Sinai Medical Center in New York im menschlichen Gehirn entdeckt wurden.

Sie untersuchte den cingulären Cortex - eine evolutionär betrachtet recht alte Gehirnstruktur, die bei allen Säugetieren zu finden ist -, und entdeckte zu ihrer Überraschung eine Gruppe von Zellen, die auffallend groß waren und einen ungewöhnlich langen, spindelförmigen Körper aufwiesen.
Nur bei Mensch, Schimpanse und Co
Zu finden waren diese Zellen zunächst lediglich im vorderen oder anterioren cingulären Cortex (ACC). Die Forscherin kontaktierte schließlich John Allman, gemeinsam suchte man nun die Zellen in den Gehirnen von mehr als 50 verschiedenen Spezies.

Das Ergebnis: Neben dem Menschen verfügen lediglich noch Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans sowie Bonobos - also seine nächsten Verwandten unter den Primaten - darüber.
Mit Unterschieden in der Anzahl
Allerdings mit Unterschieden in der Anzahl. Bei Orang-Utans etwa fanden sich nur einige hundert, Menschen verfügen über Zehntausende. Schimpansen, Gorillas und Bonobos lagen irgendwo dazwischen - je nach Verwandtschaftsgrad mit dem Menschen.
Gehirnregionen und Emotionen
Allman spürte die Spindelzellen schließlich in einer weiteren Gehirnregion auf: im frontoinsularen (FI) Cortex. Nirgends sonst wurden die Forscher fündig. Die große Frage: Was machen diese Zellen in lediglich zwei Hirnregionen der am höchsten entwickelten Primaten?

Der Caltech-Forscher begann also nachzuforschen, was über die beiden betreffenden anatomischen Areale bekannt war. Beide stehen laut Allman mit emotionalen Reaktionen in Verbindung.
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Diverse Studien zu ACC und FI
Der ACC hat demnach viele Funktionen, etwa im Rahmen der Schmerzwahrnehmung. Immer jedoch diene er als zentraler Knotenpunkt zwischen Denken, Emotion und der Reaktion des Körpers auf das, was das Gehirn verspürt. Der FI wiederum zeigte in Studien Aktivität, wenn eine Person feststellte, betrogen worden zu sein. Auch im Gehirn von Müttern ist er aktiv, wenn diese ein Kind schreien hören. Und zwei Forscher vom University College in London schließlich konnten zeigen, dass FI und ACC aktiv waren, wenn die Probanden Bilder von geliebten Personen betrachteten.
->   Mehr zur letzten Studie: Warum die Liebe blind macht (17.2.04)
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Heimstatt "sozialer Emotionen"?
"All diese Reaktionen [siehe Info-Kasten, Anm.] haben etwas gemeinsam", wird Allman im "New Scientist" zitiert. "Sie alle repräsentieren Werturteile innerhalb eines sozialen Kontextes." Er glaube, dass die Spindelzellen die Heimstatt der "komplexen sozialen Emotionen" seien.
These: Zweigeteiltes Emotionssystem
Doch es existieren noch weitere Gehirnregionen, die mit dem menschlichen Sozialverhalten in Zusammenhang stehen, jedoch überhaupt keine Spindelzellen enthalten. Allmans Erklärung ist eine Art zweigeteiltes Emotionssystem des Gehirns.

Ein Bereich ist demnach stärker auf das Denken gestützt, während das in den Spindelzellen angesiedelte System schneller funktioniert und das intuitive Verhalten bei sozialen Interaktionen kontrolliert.
Spindelzellen für "Emotionen in Echtzeit"
Mit anderen Worten: Die Hauptaufgabe der Zellen wäre es laut Allman, das menschliche Verhalten im Rahmen einer äußerst schnellen "Echtzeit"-Interaktion innerhalb eines sehr komplexen sozialen Umfeldes anzupassen.
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Vergleichsweise groß - besonders schnell?
Dass die Spindelzellen tatsächlich für größere Geschwindigkeiten in der Signalweiterleitung gebaut sind, könnte sich etwa anhand ihrer Größe nachweisen lassen: Sie sind immerhin bis zu 0,1 Millimeter lang und verfügen etwa über das vierfache Volumen der sie umgebenden Neuronen. Auch die Signalleiter der Zelle, die so genannten Axone, sowie die Signalempfänger (Dendriten) sind bei ihnen größer und länger. Nach Angaben des Neurowissenschaftlers Christof Koch vom Caltech ein Hinweis darauf, dass die Spindelzellen tatsächlich besonders schnell sein könnten.
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Rezeptoren für Neurotransmitter
Darüber hinaus hat John Allman bei Untersuchungen der Spindelzellen festgestellt, dass sie über Rezeptoren für die Neurotransmitter Serotonin, Dopamin sowie Vasopressin verfügen.

Diese Botenstoffe stehen bekanntermaßen auch mit emotional kodierten Verhaltensweisen bzw. Gefühlen wie Liebe, Paarbindung und anderem in Zusammenhang.
Der Beweis steht noch aus
Soweit die bisherigen Ergebnisse zu John Allmans Forschungen an den mysteriösen Spindelzellen. Bislang jedoch handelt es sich bei seinen Thesen im Wesentlichen um eine Theorie, der Nachweis steht noch aus.

Der Gehirnforscher Patrick Hof vom Mount Sinai Medical Center verfügt laut "New Scientist" beispielsweise über erste Studienergebnisse, die darauf hinweisen, dass die Spindelzellen bei Schizophrenie-Patienten abnormal sind.

Denkbar wäre auch die Untersuchung von menschlichen Gehirnen, deren Besitzer Zeit ihres Lebens nur eingeschränkt über die betreffenden sozialen Fähigkeiten verfügt haben dürften: Autisten beispielsweise sind häufig nicht in der Lage, sich in wechselnden sozialen Umgebungen zurecht zu finden.
->   California Institute of Technology
->   John Allman Lab (Caltech)
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01.01.2010