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Zukunftsvision für ein Europa im Jahr 2025  
  Der Europäischen Union gehören mittlerweile rund 455 Millionen Menschen aus 25 verschiedenen Nationen an. Für den britischen Historiker Timothy Garton Ash eine Art "babylonischer Turm". Und dennoch: Als Europäer sei man überall in Europa daheim, meint er und nennt dieses Phänomen das "Wesen und Wunder" Europas. Doch wie sieht die Zukunft dieser Staatengemeinschaft aus? Ein mögliches Szenario entwirft Garton Ash - und zeichnet eine Vision, die vielen wohl noch sehr weit weg erscheinen mag, und doch höchst aktuell ist: ein Europa, wie es in 20 Jahren aussehen könnte.  
Unter dem Titel "Was Europa sein kann" befasst sich der Historiker in der aktuellen Ausgabe von "Transit - Europäische Revue" mit einem Blick in die Zukunft Europas.
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Bei dem Text aus "Transit" (Nr. 27, Ausgabe vom Juli 2004) handelt es sich um den Vorabdruck eines Kapitels, das dem neuen Buch von Timothy Garton Ash entnommen ist: "Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise" erscheint am 18. September im Carl Hanser Verlag, München. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck und Hans Günter Holl. Die Zeitschrift "Transit" wird herausgegeben vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).
->   "Transit - Europäische Revue" (Juni-Ausgabe)
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Ein "farbenprächtiger Flickenteppich"
Kein Zweifel, Timothy Garton Ash gehört zu den Fans jenes von ihm als "babylonischer Turm" bezeichneten Gebildes namens Europa: "Europa ist ein facettenreicher, farbenprächtiger Flickenteppich, der nirgends auf der Erde seinesgleichen findet", lautet seine recht poetische Beschreibung.
Erfolgsgeschichte: Die Ausbreitung der Freiheit
Und dazu habe der Kontinent eine außerordentliche Geschichte zu erzählen, die von der Ausbreitung der Freiheit handle:

1942, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges, gab es in Europa gerade einmal vier freie Länder, die zudem höchst gefährdet waren. Bereits 1962 war Westeuropa fast gänzlich frei, ausgenommen nur Spanien und Portugal.
Das Ideal der "Einheit in Freiheit"
Und heute - mit einer 25 Staaten umfassenden Nation und 26 NATO-Mitgliedern, ist Garton Ash zufolge die Mehrheit der Länder Europas in Bündnissen vereint, mit den gleichen Rechten und Pflichten.

"Nie zuvor in der Geschichte ist Europa dem Ideal der 'Einheit in Freiheit' so nahe gekommen. Wenn man darauf nicht stolz sein darf, worauf denn sonst?", schreibt der britische Historiker.
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Informationen zu Timothy Garton Ash
Timothy Garton Ash - 1955 in London geboren - hat an der University of Oxford neuere Geschichte studiert. 1978 kam der Historiker nach Berlin und verbrachte mehrere Jahre in West- sowie in Ost-Berlin. In den 1980er Jahren arbeitete er einige Zeit als Kommentator für die "Times" und die Auslandsredaktion des "Spectator". Der Historiker leitet heute das European Studies Centre am Saint Antony's College in Oxford. Seit 1990 schreibt er regelmäßig - unter anderem für "The New York Review of Books". Bekannt wurde Timothy Garton Ash auch als Autor zahlreicher Bücher, die sich kritisch mit der jüngeren Geschichte Europas befassen.
->   Weitere Informationen zu Timothy Garton Ash (Hoover Institution)
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Zentrales Anliegen der kommenden Jahren
Diese Expansion der Freiheit ist allerdings auch mit der Erweiterung der EU nicht abgeschlossen, meint Timothy Garton Ash. Sie bildet vielmehr ein "zentrales Anliegen für die nächsten zwanzig Jahre".

Denn schließlich wird heute schon über die nächsten Beitrittskandidaten teils heiß diskutiert, man denke etwa an die Türkei. Eine Debatte, die der Historiker nun aufgreift, um jene Länder zu nennen, die aus seiner Sicht innerhalb der kommenden 20 Jahre für eine Vollmitgliedschaft der EU in Frage kommen.

Und zwar, um "die Größenordnung des europäischen Projekts in den nächsten zwei Jahrzehnten klarzumachen".
Umstritten: Ein Beitritt der Türkei
Neben den Balkan-Staaten sollte man laut Garton Ash eben auch der Türkei die Mitgliedschaft anbieten. Geografisch wie historisch wäre dies zwar seiner Argumentation zufolge tatsächlich strittig.

Doch gab es bereits politische Zusagen an die Türkei. "Wenn wir diese nicht hielten", so argumentiert der Historiker, "würde das eine verheerende Botschaft an die Muslime in aller Welt aussenden: Dass sie, gleich wie säkular ihre Saaten und wie gemäßigt ihre Regierungen sind, in Europa unerwünscht bleiben."
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Potenzielle Mitgliedszahl zwischen 32 und 37 Nationen
Er nennt die recht offensichtlichen Kandidaten Norwegen, Schweiz und Island - sofern diese Länder irgendwann eine Mitgliedschaft anstreben sollten. Hinzu kommen natürlich Rumänien und Bulgarien. Auch die Balkan-Staaten sieht Garton Ash als mögliche EU-Mitglieder. Weiters Ukraine, Weißrussland und Moldawien. Je nach politischer Entwicklung (mögliche Abspaltungen bzw. Entstehung unabhängiger Staaten) kommt der Historiker somit auf eine potenzielle Mitgliedszahl zwischen 32 und 37 Nationen.
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Die Folgen einer solchen Erweiterung
Die Größenordnung des Projekts Europa wäre somit hinlänglich dargestellt. Es bleiben also die Folgen einer solchen Erweiterung zu diskutieren - eingedenk der Tatsache, dass es schon mit 25 Nationen im politischen Alltag nicht eben einfach ist.
Verfassung, europäische Öffentlichkeit ...
Institutionell betrachtet fällt natürlich das Stichwort Verfassung. Hilfreich für die Zukunft der EU wären zudem die Entwicklung einer stärkeren europäischen Öffentlichkeit und eine emotionalere Identifikation mit den europäischen Institutionen, so der Historiker.

Grundlegend wäre auch eine strategische Richtung der Union. Und auch die Immigration wird in Zeiten einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft zum Thema.
Wozu brauchen wir Europa?
Bei all jenen komplexen Überlegungen mag sich so mancher die Frage stellen, wozu man Europa überhaupt braucht.

"Wir brauchen dieses Europa, um einen Rückfall in die schlechten alten Zeiten des Krieges und der Barbarei zu verhindern, die den Balkan bis ins letzte Jahr des vorigen Jahrhunderts hinein heimsuchten", lautet Garton Ashs Antwort.

"Wir brauchen dieses Europa, um den beispiellosen Wohlstand und die soziale Sicherheit zu wahren, die Westeuropa im Laufe der letzten sechzig Jahre erarbeitet hat und jetzt versucht, mit dem übrigen Kontinent zu teilen, während es vor der Herausforderung des ökonomischen Wettbewerbs mit Asien und Amerika steht."
"Baustein für eine freie Welt"
Und die wohl ambitionierteste Vorgabe: "Außerdem brauchen wir Europa als Baustein für eine freie Welt." So also lautet schließlich Garton Ashs Vision eines "Europa 2025 im Idealfall":

"Ein Staaten-, Wirtschafts- und Sicherheitsbündnis mit etwa vierzig Demokratien, 650 Millionen Menschen in Regionen, von denen zwei Weltkriege ausgingen und die nach wie vor einen Großteil des weltweiten Wohlstandes produzieren."

Hinzu kommen "weitere 650 Millionen in Ländern, die Anfang des 21. Jahrhunderts in den brisantesten Teilen der Erde lagen, jetzt aber einem großen Bogen von Partnerschaft mit der EU angehören, der von Marrakesch über Kairo, Jerusalem, Bagdad und Tiflis bis hinüber nach Wladiwostok reicht."
Kooperation Europa - USA
Ein letzter Punkt seiner Argumentation widmet sich schließlich dem Verhältnis zur Supermacht auf der anderen Seite des Atlantiks: Die Abgrenzung gegenüber den USA kann, wie der Historiker schon zuvor immer wieder betont hat, nicht als Grundlage einer europäischen Identität dienen.

Natürlich gibt es Differenzen - beispielsweise in puncto Sozialstaat -, doch nach Garton Ash überwiegen trotz allem die gemeinsamen Grundwerte.

"Das neue alte Europa diesseits und das alte neue Europa jenseits des Atlantik gehören zu ein und derselben Großfamilie", umschreibt der Historiker es launig. Seine große Liebe gilt dabei "einer würdigen alten Dame namens 'Aufklärung'".
Projektarbeit an der "Welt ohne Grenzen"
Die globalen Aufgaben der kommenden Jahrzehnte können jedenfalls nach Meinung des Historikers nur dann zu bewältigen sein, wenn Europa und Amerika kooperieren. Und gleichzeitig warnt er vor dem törichten Ziel, für Europa den Status einer Supermacht anzustreben - etwa via militärische Aufrüstung.

Ähnlich poetisch, wie er begann, endet denn auch Garton Ashs Artikel - in Anlehnung an ein Goethe-Schiller-Zitat: "Zur Supermacht uns zu bilden, wir würdens, Europäer, vergebens hoffen. Bilden wir uns, wir könnens, dafür freier zu Menschen in einem Bund von Demokraten aus, die am Projekt einer Welt ohne Grenzen arbeiten."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
->   Beiträge von Timothy Garton Ash für "The New York Review of Books"
Mehr zu Garton Ash in science.ORF.at:
->   Europa und Amerika: Die Chance in der Krise (26.4.04)
->   Ursachen für den wachsenden "Anti-Europeanism" in den USA (28.1.03)
 
 
 
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01.01.2010