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Kannibalismus einst doch weit verbreitet?  
  Dass in der Gegenwart immer wieder spektakuläre Fälle von Kannibalismus auftreten, beschäftigt vor allem die Klatschpresse und die Romanautoren. In der Wissenschaft ist die Frage, ob "Menschenfresserei" historisch weit verbreitet und evolutionär sinnvoll war, umstritten. Zuletzt mehrten sich Hinweise, die den Befürwortern dieser Theorie Recht geben. Beweise sind dies freilich noch lange nicht.  
Zwar sei es laut einem Artikel in der aktuellen Ausgabe des "New Scientist" an der Zeit zu akzeptieren, dass "nahe Verwandte von uns sich routinemäßig töteten und verspeisten", viele Wissenschaftler hegen dennoch begründete Zweifel.
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Der Artikel "Natural Born Cannibals" ist in "New Scientist" (Ausgabe vom 10. Juli 2004, S. 31) erschienen.
->   "New Scientist"
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Menschliches Muskeleiweiß im Kochtopf
Es sind vor allem zwei Studien, die der "New Scientist" für die These des weit verbreiteten Kannibalismus in der Frühzeit des Menschen heranzieht.

Die erste stammte von Richard Marlar von der University of Colorado und seinem Team. Sie fanden im Herbst 2000 in Colorado an Kochtopfscherben und in Exkrementen Spuren des Muskeleiweißes Myoglobin, das bei Menschen ausschließlich in den Muskeln vorkommt.

Die dort lebenden Anasazi-Indianer mussten also, so ihr damals in "Nature" veröffentlichter Schluss, vor rund 850 Jahren Menschen verzehrt haben.
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Die Studie von Marlar ist unter dem Titel "Biochemical evidence of cannibalism at a prehistoric Puebloan site in southwestern Colorado" in "Nature" (Bd. 407, S. 74, 7 September 2000) erschienen.
->   Original-Abstract in "Nature"
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Kannibalismus und Prionenleiden
Die zweite Studie, auf die der "New Scientist" verweist, wurde ursprünglich in "Science" vorgestellt. Ein Team um den Neurologen Simon Mead vom Institut für Neurologie des University College in London hatte Gene entdeckt, die vor Prionen-Erkrankungen - wie etwa die "Lachkrankheit" Kuru - schützen.

Ihre These: Prähistorische Kannibalen wurden in aller Welt von Prionen-Epidemien geplagt und entwickelten im Verlauf der Evolution dagegen einen "Schutzmechanismus" in ihrem Erbgut.
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Die Studie ist unter dem Titel "Balancing Selection at the Prion Protein Gene Consistent with Prehistoric Kurulike Epidemics" in "Science" (Bd. 300, S. 640, 25 April 2003) erschienen.
->   Original-Abstract in "Science" (kostenpflichtig)
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Kuru-Krankheit in Neuguinea
Die Vorgeschichte der Studie von Simon Mead und seinem Team: Prionenleiden wie die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder Kuru werden durch verseuchtes Fleisch übertragen und sind fast immer tödlich. Die Kuru-Krankheit hatte noch bis vor 40 Jahren beim Volk der Fore im damaligen Neuguinea gewütet und wenigstens zehn Prozent der Bevölkerung um ihr Leben gebracht. Die Übertragung erfolgte hierbei durch einen Ritus, bei dem vorwiegend die Frauen die Gehirne verstorbener Angehöriger präpariert haben und sich dabei ansteckten. Vielleicht haben sie auch ihr Hirn gegessen.

Die genetische Analyse von Angehörigen dieses Stammes ergab laut Mead, dass 55 Prozent der Fore die als M129V bekannte Genmutation in ihrem Erbgut tragen und damit zumindest gegen die Prionenleiden ihrer Urahnen geschützt sein dürften.

Sechs dieser Mutationen am Prion-Gen fanden die Forscher unter Volksstämmen in Neuguinea, dazu im Jemen, der Türkei, Japan und zahlreichen anderen Ländern.
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Kannibalismus
Der Begriff stammt von Christoph Kolumbus. Als er in die Neue Welt fuhr, stieß er auf bisher unbekannte Inseln, nämlich die Bahamas und die Großen Antillen. Dort berichteten ihm die Einwohner, dass ihre Nachbarn Menschenfresser seien. Kolumbus verstand allerdings den Stammesnamen falsch. Aus den Kariben wurden die Caniben und schließlich die Cannibalen, die sehr rasch zu den Namensgebern für die Menschenfresser der Neuzeit wurden. Ab dem 16. Jahrhundert löste der Begriff die seit der Antike verwendete Bezeichnung "Anthropophagie" ab.
->   Mehr dazu in wikipedia
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Kannibalismus verantwortlich für Selektionsdruck
Alle Menschen rund um den Globus, so die pointierte Zusammenfassung des "New Scientist", hätten derartige Schutzmechanismen gegen Prionenkrankheiten eingebaut.

Zwar könne der dafür verantwortliche Selektionsdruck auch vom Verzehr von infizierten Tieren herrühren. Laut John Collinge, einem Mitautor der Mead-Studie, ist Kannibalismus als Ursache aber wahrscheinlicher.
Aggression, Spiritualität und Lust
Bliebe noch die Frage nach dem Warum. Für den Paläoanthropologen Tim White von der University of California in Berkeley, der mehrere Studien zu kannibalischem Verhalten von Neanderthalern und anderen Hominiden veröffentlicht hat, kann es nicht allein an Ernährungsgründen liegen.

In seinem Buch "The buried soul" schlägt er eine Reihe anderer Ursachen vor: z.B. Aggression, Spiritualität und sogar Lust.
->   "The buried soul" (Beacon Press)
Gegner der These bleiben skeptisch
Die Gegner der "Menschenfresser-These" zeigen sich von den jüngsten Studien wenig beeindruckt. Bill Arens, Anthropologe der Stony Brook University und bereits 1980 Autor von "The Man-Eating Myth", hält schon die kannibalischen Riten in Papua-Neuginea für nicht erwiesen.

"Kein Anthropologe der Welt war bisher Augenzeuge eines derartigen Vorgangs", wird er im "New Scientist" zitiert.
->   "The Man-Eating Myth" (Oxford University Press)
Einfache andere Erklärung?
Für das Phänomen Kuru hat er eine simple andere Erklärung: Die Prionen-Erkrankung habe sich nicht durch vermeintliche Menschenfresserei entwickelt, sondern sehr ähnlich wie BSE und Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in unserer Zeit. Nämlich durch die Fütterung einer Art mit dem Fleisch derselben Art - im Falle Neuguineas von Schweinen.
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Mythos Menschenfresser? (13.2.01)
->   Kannibalismus zur Römerzeit (27.2.01)
 
 
 
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01.01.2010